Die Sumpfkönigstochter
Andersens Märchen
Die Störche, diese großen Vögel mit den langen Beinen, erzählen manchmal ganz erstaunliche Geschichten. Eine davon handelt von einer Prinzessin aus einem warmen Land, wo die Sonne immer scheint und Palmen wachsen. Diese Prinzessin war sehr traurig, denn ihr Vater, der König, war krank. Die Störche, die jedes Jahr in ihr Land kamen, sahen ihre Trauer.
Eines Tages sagten die Störche: "Wir kennen ein Land im Norden, dort gibt es vielleicht Heilung für deinen Vater, wenn du eine besondere Blume findest." Also flog die Prinzessin mit den Störchen davon, hoch über Berge und Meere, bis sie in ein kaltes, nebliges Land kamen, das wir heute Dänemark nennen.
Dort aber, oh Schreck, lebten wilde Wikinger! Sie überfielen das Lager, wo die Prinzessin mit den Störchen gelandet war. Der Anführer der Wikinger sah die schöne Prinzessin und nahm sie gefangen. Er brachte sie in seine Hütte tief im Moor und zwang sie, seine Frau zu werden. Die Prinzessin war sehr unglücklich.
Bald bekam die Prinzessin ein kleines Mädchen. Sie nannte es Helga. Am Tag war Helga das schönste Kind, das man sich vorstellen kann, mit goldenen Haaren und Augen so blau wie der Sommerhimmel. Sie war lieb und freundlich. Aber wenn die Nacht kam und der Mond aufging, verwandelte sich Helga. Ihre Schönheit verschwand. Sie wurde hässlich wie eine Kröte, mit kalter, feuchter Haut und einem bösen Blick. In der Nacht war sie grausam, biss und kratzte und quälte kleine Tiere. Sie war wie die Tochter des Moorkönigs, der tief unten im Sumpf hauste.
Die arme Mutter, die ägyptische Prinzessin, weinte jede Nacht um ihre Tochter. Sie wusste nicht, wie sie Helga helfen konnte. Tagsüber liebte sie ihr schönes Kind, aber nachts fürchtete sie sich vor der bösen Kreatur.
Jahre vergingen. Eines Tages kam ein frommer Priester in das Dorf der Wikinger. Er war ein guter Mann und hatte ein freundliches Herz. Er sah das Leid der Prinzessin und die seltsame Veränderung von Helga. Er verstand, dass ein böser Zauber auf dem Mädchen lag.
Der Priester sprach oft mit Helga, auch wenn sie nachts böse und abweisend war. Er erzählte ihr von Liebe, Güte und Vergebung. Langsam, ganz langsam, begann sich etwas in Helgas Herz zu regen, auch in ihrer nächtlichen Gestalt.
Eines Nachts, als Helga wieder als hässliches Wesen im Moor umherirrte, sah sie ihr Spiegelbild im dunklen Wasser. Sie erschrak furchtbar vor ihrer eigenen Bosheit und Hässlichkeit. Zum ersten Mal spürte sie Reue. Sie weinte bitterlich, und ihre Tränen fielen ins Moorwasser.
Der Priester, der ihr gefolgt war, fand sie weinend. Er kniete neben ihr nieder und betete mit sanfter Stimme. Er tauchte einen Zweig in das Wasser, das von Helgas Tränen berührt war, und benetzte damit ihre Stirn.
Als die ersten Sonnenstrahlen durch den Nebel brachen, geschah ein Wunder. Helga verwandelte sich nicht zurück in das schöne Mädchen des Tages – sie blieb schön! Der böse Zauber war gebrochen. Ihre innere Güte hatte die nächtliche Hässlichkeit besiegt. Von diesem Tag an war Helga immer, bei Tag und bei Nacht, ein liebes, freundliches und wunderschönes Mädchen.
Die Störche, die all die Jahre nicht vergessen hatten, kamen zurück. Sie hatten von dem Wunder gehört. "Deine Tochter ist geheilt", klapperten sie zur Prinzessin. "Und dein Vater in Ägypten sehnt sich nach dir. Die Blume der Heilung ist die Liebe deiner Tochter."
So flogen Helga und ihre Mutter mit den Störchen zurück in das sonnige Land Ägypten. Dort gab es ein großes Wiedersehen. Der alte König wurde vor Freude wieder gesund, als er seine Tochter und seine wundervolle Enkelin Helga in die Arme schloss. Und Helga, die einst die Tochter des Moorkönigs genannt wurde, lebte glücklich und zufrieden und war immer gut zu allen Menschen und Tieren. Und manchmal, wenn sie die Störche sah, dachte sie an das neblige Land im Norden und an den guten Priester, der ihr geholfen hatte.
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