Die Nachtigall
Andersens Märchen
In China, wo die Teetassen so fein sind und die Drachen Glück bringen, lebte ein Kaiser. Sein Palast war riesig und wunderschön, und sein Garten war so groß, dass selbst der Gärtner nicht wusste, wo er endete. In diesem Garten wuchsen die seltensten Blumen, und mittendrin, in einem tiefen Wald, der bis zum Meer reichte, wohnte eine Nachtigall. Sie sang so herrlich, dass jeder, der sie hörte, stillstand und lauschte.
Viele Reisende kamen, um den Palast und den Garten zu bestaunen. Sie schrieben Bücher darüber. In einem dieser Bücher stand: "Der Palast des Kaisers ist prächtig, sein Garten ist ein Wunder, aber das Allerbeste ist die Nachtigall, die im Wald singt."
Der Kaiser las das Buch und runzelte die Stirn. "Eine Nachtigall? In meinem eigenen Wald? Warum hat mir niemand davon erzählt?" Er rief seine wichtigsten Diener und Minister zu sich. "Ich befehle euch, diese Nachtigall zu finden! Sie soll heute Abend für mich singen."
Die Diener liefen aufgeregt durcheinander. Keiner von ihnen hatte je von der Nachtigall gehört. Sie fragten hier und da, bis sie schließlich ein kleines Küchenmädchen fanden. "Oh ja, die Nachtigall!", sagte das Mädchen. "Ich kenne sie gut. Jeden Abend, wenn ich meiner kranken Mutter Essen bringe, höre ich sie singen. Es ist so schön, dass mir die Tränen kommen."
Das Küchenmädchen führte die vornehmen Herren in den Wald. Nach einer Weile blieb sie stehen. "Dort ist sie!", flüsterte sie und zeigte auf einen kleinen, unscheinbaren grauen Vogel auf einem Ast.
"Ist das alles?", murmelten die Diener enttäuscht. Sie hatten etwas Prunkvolleres erwartet.
"Kleine Nachtigall", rief das Küchenmädchen, "unser Kaiser wünscht, dich singen zu hören."
Die Nachtigall begann zu singen. Ihre Stimme war so rein und klar, so voller Gefühl, dass alle ganz still wurden.
Als die Nachtigall vor dem Kaiser sang, war dieser so gerührt, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. "Oh, wunderbarer Vogel!", rief er. "Dein Gesang ist das Kostbarste, was ich besitze. Du sollst bei mir im Palast bleiben!" Die Nachtigall bekam einen goldenen Käfig und durfte zweimal am Tag im Palast frei herumfliegen.
Eines Tages kam ein großes Paket für den Kaiser. Darin war eine künstliche Nachtigall, aus Gold und Edelsteinen gefertigt. Wenn man sie aufzog, sang sie ein Lied, immer dasselbe, aber sehr hübsch. "Fantastisch!", riefen alle Hofleute. "Diese ist viel schöner anzusehen und singt auch wunderbar!"
Die echte Nachtigall wurde nun kaum noch beachtet. Traurig flog sie unbemerkt zurück in ihren grünen Wald.
Die künstliche Nachtigall sang jeden Tag, bis sie eines Tages mit einem lauten "Knacks!" verstummte. Ein Rädchen im Inneren war zerbrochen. Die Uhrmacher versuchten sie zu reparieren, aber sie konnte nur noch selten und nicht mehr so schön singen.
Viele Jahre vergingen. Der Kaiser wurde alt und sehr krank. Er lag blass und schwach in seinem Bett, und alle dachten, er würde bald sterben. Der Tod saß schon unsichtbar an seinem Bett und wartete. Der Kaiser fühlte sich einsam und hatte Angst. "Musik!", flüsterte er. "Ich brauche Musik!" Aber die künstliche Nachtigall war still.
Plötzlich, vom Fenster her, ertönte ein Gesang, so süß und tröstlich. Es war die echte Nachtigall! Sie hatte gehört, dass es dem Kaiser schlecht ging, und war gekommen, um ihn zu trösten. Sie sang von der Stille des Waldes, von der Hoffnung und vom Leben.
Selbst der Tod lauschte ergriffen. "Sing weiter, kleine Nachtigall, sing weiter!", bat er.
Und die Nachtigall sang, bis der Tod langsam aus dem Zimmer schwebte und verschwand.
Dem Kaiser ging es sofort besser. Die Farbe kehrte in seine Wangen zurück. "Oh, du edler kleiner Vogel!", sagte er. "Du hast mich gerettet! Wie kann ich dir danken?"
"Deine Tränen, als ich das erste Mal für dich sang, waren der schönste Lohn", antwortete die Nachtigall. "Ich werde dich besuchen kommen und für dich singen, wann immer du es wünschst. Aber ich muss frei bleiben und in meinem Wald leben."
Der Kaiser versprach es. Er wurde wieder ganz gesund und regierte noch viele Jahre weise und gut. Und oft, wenn alles still war, kam die kleine, graue Nachtigall ans Fenster geflogen und sang für ihn ihre allerschönsten Lieder.
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