Die Schneekönigin
Andersens Märchen
Stellt euch vor, es gab einmal einen ganz besonders frechen Troll. Dieser Troll hatte einen Spiegel gebastelt, der alles Schöne und Gute winzig klein und hässlich machte, und alles Schlechte und Hässliche riesengroß und noch schlimmer. Eines Tages, als der Troll und seine Kumpane versuchten, den Spiegel bis in den Himmel zu tragen, um sich über die Engel lustig zu machen, fiel er ihnen herunter und zerbrach in Millionen und Abermillionen winziger Splitter. Diese Splitter flogen durch die ganze Welt. Wenn so ein Splitter jemandem ins Auge flog, sah dieser Mensch alles nur noch verdreht und schlecht. Flog ein Splitter ins Herz, wurde das Herz zu einem Eisklumpen.
In einer großen Stadt lebten zwei arme Kinder, Kay und Gerda. Sie waren Nachbarn und die allerbesten Freunde. Zwischen ihren Dachkammern hatten sie einen kleinen Garten mit den schönsten Rosen. Sie spielten oft zusammen und liebten ihre Rosen über alles.
An einem Wintertag, als Kay und Gerda am Fenster saßen, erzählte die Großmutter von der Schneekönigin, die auf einer riesigen Schneeflocke durch die Lüfte saust. Kay sagte mutig: "Lass sie nur kommen, ich setze sie auf den warmen Ofen, dann schmilzt sie!"
Kurz darauf, als Kay wieder am Fenster stand und die Schneeflocken beobachtete, flog ihm ein winziger Splitter des Trollspiegels ins Auge und ein anderer direkt ins Herz. Sofort wurde Kay ganz anders. Er wurde böse zu Gerda, riss die Rosen ab und machte alles nach, was hässlich war. Er fand plötzlich Schneekristalle viel interessanter als Blumen.
Eines Tages fuhr Kay mit seinem kleinen Schlitten auf den großen Platz, wo die kühnen Jungen ihre Schlitten an die Wagen der Bauern banden. Da kam ein großer, weißer Schlitten. Darin saß eine wunderschöne Frau, ganz aus Eis und Schnee – die Schneekönigin. Kay band seinen Schlitten heimlich an ihren. Sie fuhren immer schneller, hinaus aus der Stadt. Die Schneekönigin nahm Kay zu sich in den Schlitten und küsste ihn auf die Stirn. Der Kuss war kälter als Eis, und Kay vergaß Gerda und die Großmutter. Ein zweiter Kuss, und er vergaß alles, außer der Schneekönigin. Sie nahm ihn mit in ihr eisiges Schloss im hohen Norden.
Gerda war sehr traurig, als Kay verschwunden war. Niemand wusste, wo er war. Im Frühling beschloss Gerda, Kay zu suchen. Sie ging zum Fluss und fragte ihn, ob er Kay genommen hätte. Als der Fluss nicht antwortete, warf sie ihre neuen roten Schuhe hinein, das Liebste, was sie besaß. Da trieb ein Boot ans Ufer, und Gerda stieg ein, um Kay zu suchen.
Das Boot trug sie zu einem Haus mit einem wunderschönen Blumengarten. Dort lebte eine alte Frau, die zaubern konnte. Sie wollte Gerda gerne bei sich behalten und kämmte ihr mit einem goldenen Kamm die Haare, sodass Gerda alles vergaß, auch Kay. Doch eines Tages sah Gerda eine Rose im Hut der alten Frau und erinnerte sich wieder an Kay und ihre Rosen. Schnell lief sie aus dem Garten davon.
Weiter ging ihre Reise. Sie traf eine kluge Krähe, die ihr von einem Prinzen und einer Prinzessin erzählte. Gerda dachte, vielleicht wäre Kay der Prinz. Die Krähe und ihre zahme Freundin führten Gerda ins Schloss. Aber der Prinz war nicht Kay. Doch der Prinz und die Prinzessin waren sehr freundlich. Sie gaben Gerda warme Kleider, einen goldenen Wagen und Diener, damit sie weiterreisen konnte.
Doch im Wald wurde der Wagen von Räubern überfallen. Die Räuber wollten Gerda töten, aber ein kleines, wildes Räubermädchen nahm sie unter ihren Schutz. Das Räubermädchen hatte viele Tauben und ein Rentier namens Bae. Die Tauben erzählten Gerda, dass sie Kay bei der Schneekönigin gesehen hatten, auf dem Weg nach Lappland. Das Räubermädchen gab Gerda das Rentier Bae, damit es sie dorthin bringen konnte.
Bae rannte mit Gerda viele Tage und Nächte. Sie kamen zu einer alten Lappin, die ihnen half und eine Nachricht auf einen getrockneten Fisch für eine Finnin schrieb, die noch weiter im Norden wohnte. Die Finnin wusste, dass Kays Herz vereist war. Sie sagte Gerda, dass ihre größte Stärke ihre kindliche Unschuld und Liebe sei.
Endlich erreichte Gerda das Schloss der Schneekönigin. Es war riesig und ganz aus Eis. Drinnen saß Kay, blau vor Kälte, und versuchte, aus Eisstücken das Wort "Ewigkeit" zu legen. Wenn er das schaffte, so hatte die Schneekönigin versprochen, würde er sein eigener Herr sein und die ganze Welt geschenkt bekommen.
Gerda rannte auf Kay zu und umarmte ihn. Ihre heißen Tränen fielen auf seine Brust und schmolzen den Eissplitter in seinem Herzen. Kay begann zu weinen, und mit seinen Tränen floss auch der Splitter aus seinem Auge. Er erkannte Gerda und freute sich riesig.
Hand in Hand verließen sie das Eisschloss. Unterwegs trafen sie das Rentier, das Räubermädchen und alle anderen, die ihnen geholfen hatten. Als sie endlich wieder nach Hause kamen, waren sie erwachsen geworden, aber im Herzen noch Kinder. Die Rosen im kleinen Garten zwischen ihren Dachkammern blühten schöner als je zuvor. Und sie verstanden das alte Lied: "Rosen, wo sie blühn im Tale, da sprechen wir vom Jesuskindlein."
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