• Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen

    Grimms Märchen
    Kennt ihr die Geschichte von dem Jungen, der einfach keine Angst kannte? Nein? Dann passt mal auf!

    Es gab da mal einen Jungen, der hieß Hans. Sein älterer Bruder war pfiffig und konnte viele Dinge, aber Hans, nun ja, Hans war ein bisschen anders. Er war nicht dumm, oh nein, aber er konnte eine Sache überhaupt nicht: sich gruseln. Wenn die Leute abends am Feuer saßen und Schauergeschichten erzählten, und alle anderen riefen: "Huuu, mir läuft's eiskalt den Rücken runter!", da saß Hans nur da und kratzte sich am Kopf. "Was meinen die bloß mit Gruseln?", dachte er sich.

    Eines Tages sagte er zu seinem Vater: "Vater, ich will endlich lernen, was Gruseln ist!" Der Vater seufzte. "Ach, Hans. Geh hinaus in die Welt, vielleicht lernst du es da."

    Hans packte seine Sachen und wanderte los. Er kam in ein Dorf, und dort traf er den Küster von der Kirche. "Herr Küster," fragte Hans, "können Sie mir das Gruseln beibringen?" Der Küster lachte. "Das ist einfach! Komm heute Nacht in den Kirchturm. Da spukt es gewaltig!"

    In der Nacht saß Hans im dunklen Kirchturm. Plötzlich kam eine weiße Gestalt die Treppe heruntergeschwebt und stöhnte: "Huuuuu!" Hans blinzelte. "Wer bist du denn?", fragte er. "Wenn du ein Geist bist, dann rede ordentlich! Oder bist du ein Dieb? Dann werf ich dich die Treppe runter!" Die Gestalt sagte nichts, also packte Hans sie und, schwupps, warf er sie die Treppe hinunter. Es polterte ganz schön. Unten lag der Küster mit einem Tuch über dem Kopf und jammerte, denn er hatte sich ein Bein gebrochen. "Na, das war wohl nichts mit dem Gruseln", dachte Hans und zog weiter.

    Er kam zu einem Wirtshaus. Dort erzählten die Leute von sieben Männern, die am Galgen hingen und bei denen es spuken sollte. "Vielleicht können die mir das Gruseln beibringen", dachte Hans. Mitten in der Nacht ging er zum Galgen, holte die sieben Gehenkten herunter und setzte sie ums Feuer im Wirtshaus, damit sie sich wärmen konnten. Aber sie bewegten sich nicht und ihre Kleider fingen Feuer. "He, passt doch auf!", rief Hans, löschte die Flammen und hängte sie schnell wieder an den Galgen. "Immer noch kein Gruseln", murmelte er und ging schlafen.

    Dann hörte Hans von einem König. Der König hatte ein verwunschenes Schloss, und wer es schaffte, drei Nächte darin zu verbringen, der sollte seine Tochter, die Prinzessin, zur Frau bekommen und viele Schätze dazu. "Das probiere ich!", rief Hans. "Vielleicht lerne ich da endlich das Gruseln!"

    In der ersten Nacht im Schloss saß Hans gemütlich am Kaminfeuer. Da kamen zwei riesige, schwarze Katzen mit feurigen Augen herein. "Miau, wollen wir Karten spielen?", zischten sie. Hans fand das eine gute Idee. Aber die Katzen schummelten! "So nicht!", rief Hans, packte einen Knüppel und jagte die Katzen davon. Dann wurde er müde, ein Bett erschien wie von Zauberhand, und er schlief tief und fest. Kein Gruseln.

    In der zweiten Nacht, als Hans wieder am Feuer saß, fiel mit einem lauten "Plumps!" ein halber Mann durch den Schornstein. "Hallo!", sagte Hans. "Willst du mit mir Kegeln spielen?" Der halbe Mann nickte. Hans fand ein paar alte Totenköpfe und Knochen und baute eine Kegelbahn auf. Bald kamen noch mehr halbe Männer dazu, und sie kegelten fröhlich bis zum Morgen. Aber Gruseln? Wieder nichts.

    In der dritten Nacht hörte Hans ein Ächzen und Stöhnen. Ein großer Sarg stand plötzlich im Zimmer. Der Deckel öffnete sich langsam, und ein alter, knochiger Mann stieg heraus. Er sah furchtbar kalt aus. "Du Armer, du musst ja schrecklich frieren", sagte Hans. "Komm mit mir ins Bett, da wird dir warm." Er nahm den Alten und legte ihn zu sich. Aber der Alte wurde plötzlich ganz stark und wollte Hans erwürgen! "He, so geht das aber nicht!", rief Hans, packte den Alten und steckte ihn schnell wieder zurück in den Sarg und machte den Deckel fest zu. Dann schlief er ein.

    Am nächsten Morgen kam der König. "Na, mein Junge, hast du dich gegruselt?" Hans schüttelte den Kopf. "Leider nicht, Majestät. Aber das Schloss ist jetzt wieder in Ordnung, kein Spuk mehr." Der König war überglücklich, gab Hans seine Tochter zur Frau und das halbe Königreich. Hans war nun ein Prinz, aber das Gruseln kannte er immer noch nicht.

    Die junge Prinzessin liebte ihren Hans, aber sie fand es schade, dass er sich nie gruselte. Eines Morgens, als Hans noch fest schlief, hatte sie eine Idee. Sie schlich zum Bach, füllte einen Eimer mit eiskaltem Wasser und fing ein paar kleine, zappelige Fische darin. Leise ging sie zurück ins Schlafzimmer und – platsch! – schüttete sie den ganzen Eimer über den schlafenden Hans aus.

    Hans fuhr hoch, das eiskalte Wasser lief ihm überall hinunter, und die kleinen Fische zappelten auf seiner Haut. "Brrrrr! Huuuuu! Mir ist ja ganz gruselig!", rief er und zitterte am ganzen Leib. "Ach, Liebste, jetzt weiß ich endlich, was Gruseln ist!"

    Und so lernte Hans, der Junge, der auszog, um das Gruseln zu lernen, doch noch, wie sich ein richtiger Schauer anfühlt. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lachen sie noch heute darüber.

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