Marienkind
Grimms Märchen
In einem kleinen Haus am Rande eines großen Waldes lebte ein Holzhacker mit seiner Frau. Sie hatten ein kleines Mädchen, aber sie waren sehr arm. Oft wussten sie nicht, was sie am nächsten Tag essen sollten. Eines Tages, als der Holzhacker traurig im Wald war, erschien ihm eine wunderschöne Frau in strahlend weißen Kleidern. Es war die heilige Jungfrau Maria.
Sie sagte: "Ich sehe deine Not. Gib mir dein Kind. Ich werde gut für es sorgen." Der Holzhacker erzählte es seiner Frau, und nach kurzem Zögern gaben sie ihr Kind der Jungfrau Maria.
Maria nahm das Mädchen mit in den Himmel. Dort hatte es ein wunderbares Leben. Es aß Zuckerkuchen und trank süße Milch, spielte mit kleinen Engeln und trug goldene Kleider. Als das Mädchen vierzehn Jahre alt war, sagte Maria: "Liebes Kind, ich muss eine lange Reise machen. Hier sind die Schlüssel zu den dreizehn Türen des Himmels. Du darfst zwölf Türen öffnen und dir die Herrlichkeiten ansehen. Aber die dreizehnte Tür, die mit diesem kleinen Schlüssel, die darfst du auf keinen Fall öffnen, sonst wirst du unglücklich."
Das Mädchen versprach es. Jeden Tag öffnete es eine Tür und staunte über die Engel und die Schönheit. Als nur noch die verbotene Tür übrig war, wurde es neugierig. "Was kann da schon Schlimmes drin sein?", dachte es. Es nahm den kleinen Schlüssel und öffnete die Tür. Da sah es ein blendendes Licht und die Heilige Dreifaltigkeit. Erschrocken und fasziniert zugleich, steckte es seinen Finger hinein. Als es ihn herauszog, war der Finger ganz golden. Schnell schloss es die Tür. Aber die goldene Farbe ging nicht ab, egal wie sehr es wusch und rieb.
Als Maria zurückkam, fragte sie nach den Schlüsseln. Dann fragte sie: "Hast du auch die dreizehnte Tür geöffnet?"
"Nein", log das Mädchen.
Maria sah den goldenen Finger. "Doch, das hast du", sagte sie.
"Nein", log das Mädchen wieder.
Ein drittes Mal fragte Maria, und ein drittes Mal log das Mädchen. Da sagte Maria traurig: "Wer nicht gehorcht und lügt, kann nicht im Himmel bleiben." Und plötzlich war das Mädchen auf der Erde, in einer großen Wildnis, und es konnte nicht mehr sprechen.
Das Mädchen lebte in einem hohlen Baum, aß Beeren und Wurzeln. Eines Tages jagte der König des Landes in diesem Wald. Er sah das schöne Mädchen, das stumm war, und verliebte sich in sie. Er nahm sie mit auf sein Schloss und heiratete sie.
Nach einem Jahr bekam die Königin ein Kind. In der Nacht erschien ihr die Jungfrau Maria und sagte: "Wenn du die Wahrheit sagst, dass du die Tür geöffnet hast, gebe ich dir dein Kind zurück und deine Sprache." Aber die Königin log wieder. Da nahm Maria das Kind mit. Die Leute im Schloss tuschelten, die Königin hätte ihr Kind gefressen.
Im nächsten Jahr bekam sie wieder ein Kind, und wieder erschien Maria, und wieder log die Königin, und wieder wurde das Kind mitgenommen. Beim dritten Kind war es genauso. Nun sagten die Leute laut: "Sie ist eine Menschenfresserin!" Der König konnte sie nicht mehr schützen, und sie wurde zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt.
Als sie auf dem Scheiterhaufen stand und das Feuer schon brannte, dachte sie: "Ach, könnte ich doch nur einmal die Wahrheit sagen!" Und sie rief laut: "Ja, Maria, ich habe die Tür geöffnet!"
Sofort hörte das Feuer auf zu brennen. Die Jungfrau Maria erschien mit den drei Kindern an ihrer Seite. Sie sagte: "Wer bereut und die Wahrheit sagt, dem wird vergeben." Sie gab der Königin ihre Kinder zurück und ihre Sprache. Und von da an lebten sie alle glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.
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