Kassandras Fluch
Griechische Mythologie
In der prächtigen Stadt Troja, wo die Sonne golden auf die hohen Mauern schien, lebte eine kluge und wunderschöne Prinzessin. Ihr Name war Kassandra. Sie war nicht nur schön, sondern auch sehr schlau und hatte ein gutes Herz.
Eines Tages sah Apoll, der Gott des Lichts und der Musik, die Prinzessin. Er fand sie so bezaubernd, dass er ihr ein besonderes Geschenk machen wollte. "Kassandra," sagte er mit seiner glänzenden Stimme, "ich gebe dir die Gabe, in die Zukunft zu sehen! Du wirst wissen, was geschehen wird, bevor es passiert. Dafür möchte ich nur, dass du meine Freundin wirst."
Kassandra dachte nach. Die Zukunft sehen? Das klang aufregend! "Ja, das möchte ich!", rief sie. Apoll lächelte und hauchte ihr die Gabe ein. Plötzlich konnte Kassandra Bilder von Dingen sehen, die noch gar nicht passiert waren. Es war, als ob ein kleiner Film in ihrem Kopf ablief.
Aber dann überlegte es sich Kassandra anders. "Apoll," sagte sie, "ich danke dir für die Gabe, aber deine Freundin möchte ich doch nicht sein." Apoll wurde sehr zornig. Er war ein Gott und nicht gewohnt, dass man ihm einen Wunsch abschlug. Er konnte die Gabe nicht zurücknehmen, das ging nicht. Aber er konnte sie verändern. "Gut!", rief er mit donnernder Stimme. "Du wirst immer die Wahrheit vorhersagen, aber niemand, wirklich niemand, wird dir jemals glauben!" Und mit diesen Worten verschwand er.
Von diesem Tag an sah Kassandra viele Dinge voraus. Sie sah, dass ein großes Unglück über ihre Stadt Troja kommen würde. Sie sah feindliche Schiffe am Horizont und warnte: "Passt auf! Es kommt Krieg!" Aber die Leute lachten nur und sagten: "Ach, Kassandra, du siehst Gespenster."
Als später ein riesiges Holzpferd als Geschenk vor den Toren Trojas stand, rief Kassandra voller Angst: "Nehmt das Pferd nicht in die Stadt! Es ist eine Falle! In seinem Bauch sind feindliche Soldaten versteckt!" Sie rannte zu ihrem Vater, dem König, und zu ihren Brüdern. "Glaubt mir doch!", flehte sie mit Tränen in den Augen. Aber alle schüttelten nur den Kopf. "Ach, Kassandra," sagten sie, "du hast immer so seltsame Ideen. Das ist doch nur ein schönes Geschenk."
Die Trojaner zogen das Pferd in ihre Stadt und feierten ein großes Fest. In der Nacht aber, als alle schliefen, kletterten die Soldaten aus dem Bauch des Holzpferdes, öffneten die Stadttore für ihre Armee, und Troja wurde erobert und zerstört.
Erst als alles verloren war, als die Häuser brannten und die Feinde in den Straßen waren, erinnerten sich die Menschen an Kassandras Worte. Sie hatte die ganze Zeit die Wahrheit gesagt, aber niemand hatte ihr geglaubt. Das war Kassandras trauriges Schicksal, und eine ernste Warnung für alle, die nicht zuhören wollen, auch wenn die Wahrheit manchmal seltsam klingt.
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