Der Krebs und die Schlange
Äsopische Fabeln
Am Ufer eines plätschernden Baches, wo das Gras besonders grün war, wohnten ein Krebs und eine Schlange nicht weit voneinander entfernt. Der Krebs war ein ehrliches Kerlchen. Er bewegte sich zwar immer seitwärts, aber seine Absichten waren stets gerade und aufrichtig. Die Schlange hingegen war ein schlaues, aber auch ein wenig hinterlistiges Tier. Sie schlängelte sich nicht nur durch das Gras, sondern auch oft um die Wahrheit herum.
Der Krebs versuchte oft, die Schlange zu einer besseren Lebensweise zu bewegen. "Liebe Schlange", sagte er mit seiner knarrenden Stimme, "warum bist du immer so verschlungen in deinen Wegen und Worten? Sei doch einfach mal geradeheraus und ehrlich, das macht das Zusammenleben viel einfacher und schöner!" Er meinte es wirklich gut und wünschte sich eine ehrliche Nachbarschaft.
Die Schlange zischte dann meistens nur leise, zwinkerte mit ihren glitzernden Augen und versprach, sich zu bessern. Aber kaum war der Krebs außer Sichtweite, heckte sie schon wieder irgendeinen kleinen, gemeinen Streich aus oder verdrehte die Tatsachen zu ihrem Vorteil. Mal versteckte sie dem Krebs sein Lieblingsmoos, mal erzählte sie den anderen Tieren am Bach Unwahrheiten über ihn.
Der Krebs wurde darüber sehr traurig und auch ein bisschen wütend. Er hatte es satt, immer wieder von der Schlange getäuscht und hintergangen zu werden. "So kann das nicht weitergehen", dachte er sich eines Tages, als die Schlange ihn mal wieder besonders arglistig behandelt hatte.
Er wartete, bis die Schlange nach einer üppigen Mahlzeit satt und zufrieden in der Sonne eingeschlafen war. Ganz leise, Schritt für Schritt seitwärts, näherte sich der Krebs. Als er direkt neben der schlafenden Schlange war, die sich lang ausgestreckt hatte, packte er sie blitzschnell und fest mit seinen starken Scheren. Die Schlange zuckte noch einmal kurz, dann lag sie ganz still und gerade da.
Der Krebs betrachtete die nun reglose Schlange und seufzte tief. "Ach, Schlange", sagte er leise vor sich hin, "hättest du doch im Leben so gerade und ehrlich gehandelt, wie du jetzt im Tode daliegst. Dann hätten wir vielleicht gute Nachbarn sein können." Und mit einem schweren Herzen kroch der Krebs davon, ein wenig traurig, dass es so weit hatte kommen müssen.
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