Der Wolf und der Haushund
Äsopische Fabeln
In einem großen Wald, wo die Bäume bis in den Himmel ragten, lebte ein Wolf. Dieser Wolf war oft hungrig. Er war ziemlich dünn, denn Futter zu finden war nicht immer leicht.
Eines Abends traf er am Waldrand einen Hund. Oh, dieser Hund sah prächtig aus! Sein Fell glänzte und er war rund und wohlgenährt. Der Wolf, dessen Magen knurrte, fragte: "Mein lieber Freund Hund, wie kommt es, dass du so gut aussiehst, während ich kaum etwas zu beißen finde?"
Der Hund lachte. "Ach, das ist ganz einfach! Ich bewache das Haus meiner Menschen. Dafür bekomme ich leckere Reste vom Tisch, Streicheleinheiten und habe immer ein warmes Plätzchen zum Schlafen."
Das klang für den hungrigen Wolf wie Musik in den Ohren. "Wirklich? Das ist alles?", fragte er erstaunt. "Könnte ich das auch haben?"
"Aber sicher!", sagte der Hund freundlich. "Komm einfach mit mir. Du musst nur nett zu den Menschen sein und nachts ein bisschen aufpassen."
Der Wolf war schon fast überzeugt, als ihm etwas am Hals des Hundes auffiel. Das Fell dort war ganz abgewetzt, fast kahl. "Was ist denn das an deinem Hals?", fragte der Wolf neugierig.
Der Hund zögerte kurz. "Ach, das ist nichts Besonderes. Das ist nur von meinem Halsband. Tagsüber binden sie mich manchmal an, damit ich nicht weglaufe."
"Angebunden?", wiederholte der Wolf langsam. "Du kannst also nicht hingehen, wohin du willst?"
"Naja, nicht immer", gab der Hund zu. "Aber was macht das schon? Ich habe doch genug zu fressen und ein warmes Bett."
Der Wolf schüttelte den Kopf. "Nein, danke, mein Freund. Ein voller Bauch ist schön, aber frei zu sein und durch den Wald zu rennen, wann immer ich will, ist mir lieber."
Und mit diesen Worten drehte sich der Wolf um und verschwand wieder im tiefen, dunklen Wald. Lieber hungrig und frei als satt und an der Leine.
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