• Der Esel und die Heuschrecke

    Äsopische Fabeln
    Stellt euch eine bunte Blumenwiese vor, auf der die Sonne lachte. Dort lebte ein Esel, der gerne fröhlich war, aber nicht besonders gut singen konnte. Sein "I-Aah" klang eher ein bisschen kratzig.

    In der Nähe, auf einem hohen Grashalm, saß eine kleine Heuschrecke und zirpte ein Lied, das so klar und rein klang wie ein Silberglöckchen. Der Esel spitzte seine langen Ohren. "Oh, wie wunderschön!", dachte er. "Wenn ich nur auch so eine Stimme hätte!"

    Neugierig trottete er zu der Heuschrecke. "Liebe Heuschrecke," fragte er mit seiner etwas heiseren Stimme, "verrätst du mir dein Geheimnis? Was isst du denn, dass du so herrlich singen kannst?"

    Die Heuschrecke lächelte. "Nichts Besonderes, lieber Esel. Ich trinke jeden Morgen den frischen Tau von den Blättern."

    "Nur Tau?", staunte der Esel. "Das muss ich auch versuchen!" Und von diesem Tag an rührte der Esel sein Heu und seine Disteln nicht mehr an. Er leckte nur noch den Tau von den Gräsern und Blättern, so wie es die Heuschrecke tat.

    Aber ach! Der Tau machte den Esel nicht zu einem Sänger. Stattdessen wurde er immer dünner und schwächer. Sein "I-Aah" klang bald nur noch wie ein müdes Krächzen. Er hatte einfach nicht genug Kraft, denn Tau allein macht einen großen Esel nicht satt.

    Da verstand der Esel: Was für eine zarte Heuschrecke gut ist, reicht für einen großen, starken Esel noch lange nicht. Es ist doch am besten, man bleibt, was man ist, und freut sich über das, was man gut kann – auch wenn es kein wunderschöner Gesang ist.

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