Der Müller, sein Sohn und der Esel
Äsopische Fabeln
An einem sonnigen Morgen beschlossen ein Müller und sein Sohn, ihren Esel auf dem Markt zu verkaufen. Der Müller hieß Hans und sein Sohn Fritzchen. Sie machten sich auf den Weg, und der Esel trottete brav neben ihnen her.
Bald kamen ihnen ein paar Mädchen entgegen. „Schaut mal!“, kicherte eine. „Was für Dummköpfe! Sie haben einen Esel und laufen trotzdem zu Fuß!“
Der Müller dachte nach. „Vielleicht haben sie recht“, sagte er zu Fritzchen. „Setz du dich auf den Esel.“ Fritzchen kletterte auf den Esel, und sie gingen weiter.
Nach einer Weile trafen sie eine Gruppe alter Männer. „Seht euch das an!“, brummte einer. „Der junge Bursche reitet, und sein alter Vater muss laufen! Was für eine Schande!“
Dem Müller wurde es unangenehm. „Steig ab, Fritzchen“, sagte er. „Jetzt reite ich.“ Also stieg Fritzchen ab, und der Müller setzte sich auf den Esel.
Sie waren noch nicht weit gekommen, da begegneten ihnen Frauen mit Kindern. „Oh, der arme kleine Junge!“, rief eine Frau. „Er muss laufen, während der starke Vater bequem reitet! Wie herzlos!“
Der Müller seufzte. „Na gut, Fritzchen“, sagte er. „Komm, setz dich mit mir auf den Esel.“ So ritten sie beide auf dem Esel.
Als sie sich der Stadt näherten, sahen sie eine Gruppe von Leuten. „Schaut euch diesen armen Esel an!“, rief jemand. „Er muss zwei Leute tragen! Das ist ja Tierquälerei!“
Der Müller und Fritzchen sahen sich ratlos an. „Was sollen wir denn jetzt machen?“, fragte Fritzchen.
Der Müller hatte eine Idee, wenn auch eine seltsame. „Wir tragen den Esel!“, sagte er.
Sie fanden einen langen Stock, banden die Beine des Esels zusammen und hievten ihn auf ihre Schultern. So schwankten sie mit dem zappelnden Esel auf dem Stock in Richtung Markt. Die Leute am Wegesrand lachten und zeigten mit dem Finger auf sie.
Als sie über eine Brücke gingen, erschrak der Esel vor dem ganzen Lärm und Gelächter. Er strampelte so heftig, dass er vom Stock rutschte und platsch! – direkt in den Fluss fiel. Der Esel konnte nicht schwimmen und war verschwunden.
Der Müller und Fritzchen standen traurig am Ufer. Sie hatten keinen Esel mehr zu verkaufen und hatten gelernt: Wenn man versucht, es allen recht zu machen, macht man es am Ende niemandem recht – und verliert vielleicht sogar das, was man hat.
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