Die weiße Schlange
Grimms Märchen
In einem großen, glänzenden Schloss wohnte ein König, der war sehr klug. Niemand wusste aber, warum er so klug war. Jeden Mittag brachte ihm ein Diener eine Schüssel, die immer zugedeckt war. Der König aß daraus, aber erst, als er ganz allein war.
Der Diener war furchtbar neugierig. "Was ist nur in dieser Schüssel?", dachte er sich. Eines Tages, als er die Schüssel wegtrug, konnte er nicht widerstehen. Heimlich, ganz heimlich, hob er den Deckel ein kleines bisschen an. Darunter lag eine weiße Schlange! Er nahm ein winziges Stückchen und steckte es in den Mund.
Und wisst ihr was? Plötzlich konnte er verstehen, was die Tiere sprachen! Draußen im Hof hörte er Spatzen miteinander zwitschern und verstand jedes Wort.
Genau an diesem Tag verlor die Königin ihren schönsten Ring. Überall wurde gesucht, aber der Ring war weg. Der König wurde ärgerlich und dachte, der neugierige Diener hätte ihn vielleicht genommen. Er sagte zum Diener: "Wenn du den Ring bis morgen nicht findest, bekommst du eine Strafe!"
Der Diener bekam große Angst. Er ging traurig in den Hof. Da hörte er zwei Enten am Teich schnattern. "Au, mein Magen", sagte die eine, "ich habe heute Morgen aus Versehen den Ring der Königin verschluckt!" Sofort lief der Diener zum Koch, ließ die Ente fangen und siehe da – im Magen der Ente fand sich der Ring!
Der Diener brachte dem König den Ring. Der König war sehr erstaunt und wollte den Diener belohnen. Aber der Diener bat nur um ein Pferd und etwas Geld, denn er wollte die Welt sehen. Der König gab es ihm, und der Diener ritt los.
Unterwegs kam er an einem See vorbei. Am Ufer lagen viele Fische und schnappten nach Luft. Schnell half der Diener ihnen zurück ins kühle Wasser. Die Fische riefen ihm nach: "Danke! Wenn du mal Hilfe brauchst, wir vergessen das nicht!"
Er ritt weiter und sah einen Ameisenhaufen direkt auf dem Weg. Sein Pferd wäre fast darauf getreten! Schnell lenkte er das Pferd zur Seite. Der Ameisenkönig krabbelte herbei und rief: "Danke! Wenn du mal Hilfe brauchst, wir vergessen das nicht!"
Schließlich kam er an einem Baum vorbei. Oben im Nest saßen drei junge Raben und schrien vor Hunger. Ihre Eltern konnten nicht genug Futter finden. Da tat dem Diener leid. Er stieg ab, gab den Raben sein Pferd als Futter und ging zu Fuß weiter. Die jungen Raben krächzten: "Danke! Wenn du mal Hilfe brauchst, wir vergessen das nicht!"
Endlich erreichte er eine große Stadt. Dort lebte eine wunderschöne Prinzessin, aber ihr Vater, der König, sagte: "Wer meine Tochter heiraten will, muss erst drei schwere Aufgaben lösen." Viele hatten es versucht, aber keiner hatte es geschafft. Der junge Mann dachte: "Ich versuche mein Glück!"
Die erste Aufgabe war: Der König warf einen goldenen Ring ins tiefe Meer. "Bring ihn mir zurück!", befahl er. Der junge Mann ging traurig zum Strand. Da kamen die Fische angeschwommen, denen er geholfen hatte! Einer von ihnen hatte den Ring im Maul und gab ihn ihm. Freudig brachte er den Ring zum König.
Der König war überrascht, aber er gab ihm die zweite Aufgabe: "Hier sind zehn Säcke voll Hirsekörner. Ich schütte sie ins Gras. Bis morgen früh musst du alle Körner wieder eingesammelt haben, kein einziges darf fehlen!" Der junge Mann wusste nicht, wie er das schaffen sollte. Aber in der Nacht kamen tausende von Ameisen gekrabbelt, die Ameisen, denen er geholfen hatte! Sie sammelten jedes Körnchen auf. Am Morgen waren alle Säcke wieder voll.
Der König staunte noch mehr. "Die letzte Aufgabe", sagte er, "ist, mir einen Apfel vom Baum des Lebens zu bringen." Der junge Mann wusste nicht einmal, wo dieser Baum stand. Er setzte sich unter einen Baum und war ratlos. Da kamen die drei Raben geflogen, die er gerettet hatte! Sie waren inzwischen groß und stark. Sie flogen weit, weit weg und kamen nach einer Weile zurück. Einer von ihnen hatte einen goldenen Apfel im Schnabel – den Apfel vom Baum des Lebens!
Nun musste der König sein Wort halten. Die Prinzessin war zwar nicht sofort begeistert, einen einfachen Mann zu heiraten, aber als er ihr den wunderschönen Apfel vom Baum des Lebens zeigte, nahm sie ihn an. Sie teilten den Apfel und aßen ihn gemeinsam. Und in diesem Moment verliebten sie sich tief ineinander. Sie heirateten und lebten zusammen glücklich und zufrieden für viele, viele Jahre.
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