• Schneeweißchen und Rosenrot

    Grimms Märchen
    In einem gemütlichen kleinen Haus, ganz nah am Wald, wohnte eine liebe Mutter mit ihren zwei Töchtern. Die eine hieß Schneeweißchen, weil sie so zart und hell war wie Schnee. Sie war ruhig und half gern im Haus. Die andere war Rosenrot, denn sie liebte es, draußen zwischen den Rosen zu spielen und war immer fröhlich und ein bisschen wild. Vor ihrem Häuschen wuchsen zwei Rosenbäumchen, eines mit weißen und eines mit roten Rosen, und die Mädchen waren so lieb und fleißig, dass alle Tiere im Wald sie mochten.

    Eines kalten Winterabends, als draußen der Schnee fiel, klopfte es an der Tür. Rosenrot machte mutig auf und – oh Schreck! – da stand ein riesiger, brauner Bär. "Keine Angst," brummte der Bär mit tiefer Stimme. "Ich will euch nichts tun. Mir ist nur so kalt, ich möchte mich ein bisschen am Feuer wärmen."

    Die Mutter sagte: "Komm nur herein, armer Bär, und leg dich ans Feuer. Aber sei vorsichtig, dass dein Pelz nicht brennt." Schneeweißchen und Rosenrot verloren bald ihre Angst. Sie bürsteten den Schnee von seinem Fell, spielten mit ihm und zogen ihn manchmal ein bisschen am Pelz, aber der Bär brummte nur gutmütig. Er kam jeden Abend wieder, und sie gewöhnten sich so an ihn, dass sie die Tür nicht mehr verriegelten, bis ihr brauner Freund da war.

    Als der Frühling kam und alles grün wurde, sagte der Bär eines Morgens zu Schneeweißchen: "Nun muss ich fort und darf den ganzen Sommer nicht wiederkommen." "Wohin gehst du denn, lieber Bär?", fragte Schneeweißchen. "Ich muss in den Wald und meine Schätze vor den bösen Zwergen hüten", antwortete der Bär. "Im Winter, wenn die Erde hart gefroren ist, müssen sie wohl unten bleiben und können sich nicht durcharbeiten; aber jetzt, wo die Sonne die Erde aufgetaut und erwärmt hat, da brechen sie durch, steigen herauf, suchen und stehlen."

    Schneeweißchen und Rosenrot waren sehr traurig über seinen Abschied. Als er durch die Tür ging, blieb er am Türhaken hängen, und ein Stück seiner Haut riss auf. Schneeweißchen meinte, Gold darunter schimmern gesehen zu haben, aber sie war sich nicht sicher. Der Bär lief schnell davon und war bald hinter den Bäumen verschwunden.

    Einige Zeit später schickte die Mutter die Kinder in den Wald, um Reisig zu sammeln. Da sahen sie einen großen Baum, der gefällt am Boden lag, und an dem Stamm sprang etwas auf und ab, aber sie konnten nicht erkennen, was es war. Als sie näherkamen, sahen sie einen Zwerg mit einem alten, wettergegerbten Gesicht und einem ellenlangen, schneeweißen Bart. Das Ende des Bartes war in einer Spalte des Baumes eingeklemmt, und der Kleine hüpfte hin und her wie ein Hündchen an einer Leine und wusste nicht, wie er sich helfen sollte.

    Er starrte die Mädchen mit seinen roten, feurigen Augen an und schrie: "Was steht ihr da! Könnt ihr nicht herbeikommen und mir Beistand leisten?" "Was hast du denn, kleines Männchen?", fragte Rosenrot. "Dummer, neugieriger Gänserich!", antwortete der Zwerg. "Ich wollte den Baum spalten, um kleines Holz in der Küche zu haben; bei den dicken Klötzen verbrennt gleich das wenige Essen. Ich hatte den Keil schon glücklich hineingetrieben, da sprang der vermaledeite Keil plötzlich heraus, und der Baum fuhr so geschwind zusammen, dass ich meinen schönen weißen Bart nicht mehr herausziehen konnte; nun steckt er fest, und ich kann nicht fort. Da lachen die albernen, glatten Milchgesichter! Pfui, was seid ihr garstig!"

    Die Kinder gaben sich alle Mühe, aber sie konnten den Bart nicht herausziehen, er steckte zu fest. "Ich will laufen und Leute holen", sagte Rosenrot. "Blödsinn!", schnarrte der Zwerg. "Wer wird wegen mir gleich Leute herbeirufen? Ihr seid mir schon zwei zu viel. Fällt euch nichts Besseres ein?" "Sei nur nicht ungeduldig", sagte Schneeweißchen, "ich will schon Rat schaffen", holte ihr Scherchen aus der Tasche und schnitt das Ende des Bartes ab.

    Sobald der Zwerg sich frei fühlte, griff er nach einem Sack, der zwischen den Wurzeln des Baumes versteckt war und mit Gold gefüllt war, hob ihn heraus und murmelte vor sich hin: "Ungeschliffenes Volk, schneidet mir ein Stück von meinem stolzen Bart ab!" Damit schwang er seinen Sack auf den Rücken und ging fort, ohne die Kinder auch nur noch einmal anzusehen.

    Einige Zeit danach wollten Schneeweißchen und Rosenrot ein Gericht Fische fangen. Als sie nahe beim Bach waren, sahen sie, dass etwas wie eine große Heuschrecke zum Wasser hüpfte, als wollte es hineinspringen. Sie liefen hinzu und erkannten den Zwerg. "Wo willst du hin?", sagte Rosenrot. "Du willst doch nicht ins Wasser?" "So ein Narr bin ich nicht!", schrie der Zwerg. "Seht ihr nicht, der verwünschte Fisch will mich hineinziehen?" Der Kleine hatte da gesessen und geangelt, und unglücklicherweise hatte der Wind seinen Bart mit der Angelschnur verwirrt. Als gleich darauf ein großer Fisch anbiss, fehlten dem schwachen Geschöpf die Kräfte, ihn herauszuziehen; der Fisch behielt die Oberhand und riss den Zwerg zu sich hin. Zwar hielt er sich an allen Halmen und Binsen, aber das half nicht viel, er musste den Bewegungen des Fisches folgen und war in beständiger Gefahr, ins Wasser gezogen zu werden.

    Die Mädchen kamen gerade rechtzeitig, hielten ihn fest und versuchten, den Bart von der Schnur loszumachen, aber vergebens, Bart und Schnur waren fest ineinander verwirrt. Es blieb nichts anderes übrig, als das Scherchen hervorzuholen und den Bart abzuschneiden, wobei ein kleiner Teil desselben verlorenging. Als der Zwerg das sah, schrie er sie an: "Ist das eine Manier, ihr Tölpel, einem das Gesicht zu schänden? Nicht genug, dass ihr mir den Bart unten abgestutzt habt, jetzt schneidet ihr mir noch das beste Stück davon ab! Ich darf mich vor meinen Leuten nicht mehr sehen lassen. Dass ihr laufen müsstet und eure Schuhsohlen verloren hättet!" Dann holte er einen Sack Perlen, der im Schilf lag, und ohne ein Wort weiter zu sagen, schleppte er ihn fort und verschwand hinter einem Stein.

    Es trug sich zu, dass die Mutter bald darauf die beiden Mädchen nach der Stadt schickte, um Zwirn, Nadeln, Schnüre und Bänder einzukaufen. Der Weg führte sie über eine Heide, auf der hier und da mächtige Felsstücke zerstreut lagen. Da sahen sie einen großen Vogel in der Luft schweben, der langsam über ihnen kreiste, sich immer tiefer herabsenkte und endlich nicht weit bei einem Felsen niederstieß. Gleich darauf hörten sie einen durchdringenden, jämmerlichen Schrei. Sie liefen hinzu und sahen mit Schrecken, dass der Adler ihren alten Bekannten, den Zwerg, gepackt hatte und ihn forttragen wollte.

    Die mitleidigen Kinder hielten gleich das Männchen fest und zerrten sich so lange mit dem Adler herum, bis er seine Beute fahren ließ. Als der Zwerg sich von dem ersten Schrecken erholt hatte, schrie er mit seiner kreischenden Stimme: "Konntet ihr nicht säuberlicher mit mir umgehen? Gerissen habt ihr an meinem dünnen Röckchen, dass es überall zerfetzt und durchlöchert ist! Unbeholfenes, täppisches Pack, das ihr seid!" Dann nahm er einen Sack mit Edelsteinen und schlüpfte wieder unter den Felsen in seine Höhle. Die Mädchen waren an seine Undankbarkeit schon gewöhnt, setzten ihren Weg fort und verrichteten ihr Geschäft in der Stadt.

    Als sie auf dem Heimweg wieder über die Heide kamen, überraschten sie den Zwerg, der auf einem sauberen Plätzchen seinen Sack mit Edelsteinen ausgeschüttet und nicht gedacht hatte, dass so spät noch jemand daherkommen würde. Die Abendsonne schien auf die blitzenden Steine, sie glänzten und schimmerten so prächtig in allen Farben, dass die Kinder stehen blieben und sie betrachteten. "Was steht ihr da und habt Maulaffen feil?", schrie der Zwerg, und sein aschgraues Gesicht wurde zinnoberrot vor Zorn. Er wollte mit seinen Schimpfworten fortfahren, als sich ein lautes Brummen hören ließ und ein schwarzer Bär aus dem Walde herbeitrabte.

    Erschrocken sprang der Zwerg auf, aber er konnte nicht mehr zu seinem Schlupfwinkel gelangen, der Bär war ihm schon zu nah. Da rief er in Herzensangst: "Lieber Herr Bär, verschont mich, ich will Euch alle meine Schätze geben! Seht, die schönen Edelsteine, die da liegen! Schenkt mir das Leben! Was habt Ihr an mir kleinem, schmächtigem Kerl? Ihr spürt mich nicht einmal zwischen den Zähnen. Da, nehmt die beiden gottlosen Mädchen, das sind für Euch zarte Bissen, fett wie junge Wachteln; fresst die in Gottes Namen!" Der Bär aber kümmerte sich nicht um seine Worte, gab dem boshaften Geschöpf einen einzigen Schlag mit der Tatze, und es regte sich nicht mehr.

    Die Mädchen waren fortgesprungen, aber der Bär rief ihnen nach: "Schneeweißchen und Rosenrot, fürchtet euch nicht, wartet, ich will mit euch gehen." Da erkannten sie seine Stimme und blieben stehen, und als der Bär bei ihnen war, fiel plötzlich die Bärenhaut ab, und er stand da als ein schöner Mann und war ganz in Gold gekleidet. "Ich bin eines Königs Sohn", sprach er, "und war von dem gottlosen Zwerg, der mir meine Schätze gestohlen hatte, verwünscht worden, als ein wilder Bär im Walde zu laufen, bis ich durch seinen Tod erlöst würde. Nun hat er seine wohlverdiente Strafe empfangen."

    Schneeweißchen wurde mit ihm vermählt, und Rosenrot mit seinem Bruder, und sie teilten die großen Schätze miteinander, die der Zwerg in seiner Höhle zusammengetragen hatte. Die alte Mutter lebte noch viele Jahre vergnügt bei ihren Kindern. Die zwei Rosenbäumchen aber nahm sie mit, und sie standen vor ihrem Fenster und trugen jedes Jahr die schönsten Rosen, weiß und rot. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

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