Das Rätselmärchen
Grimms Märchen
Hört mal zu, Kinder, was sich einst zugetragen hat! Es gab einen jungen Prinzen, der war abenteuerlustig und klug. Er hörte von einer wunderschönen Prinzessin, die in einem prächtigen Schloss lebte. Aber diese Prinzessin hatte eine Bedingung: Wer sie heiraten wollte, musste ihr ein Rätsel aufgeben, das sie nicht lösen konnte, oder ihr eigenes kniffliges Rätsel lösen. Schon viele waren gekommen, aber keiner hatte es geschafft und musste traurig wieder nach Hause ziehen.
Unser Prinz dachte sich: "Das probiere ich!" Er reiste zum Schloss der Prinzessin. Sie empfing ihn freundlich und sagte mit einem Lächeln: "Du hast drei Tage Zeit, mein Rätsel zu lösen. Wenn du es schaffst, werde ich deine Frau. Wenn nicht, musst du gehen." Der Prinz war einverstanden.
Da sprach die Prinzessin: "Was ist das: Ich aß etwas, das war nicht gekocht und nicht gebraten, und doch war es Speise?"
Der Prinz dachte nach, den ganzen ersten Tag. Am Abend brachte ihm die Prinzessin einen Becher mit süßem Wein. "Trink", sagte sie, "das erfrischt den Geist." Der Prinz trank, und weil er müde war vom Denken, schlief er bald tief ein. Während er schlief, schlich die Prinzessin leise herbei und nahm ihm heimlich einen goldenen Ring vom Finger, den er sehr liebte.
Am nächsten Morgen wachte der Prinz auf und grübelte weiter. Aber die Lösung fiel ihm nicht ein. Wieder kam der Abend, und wieder brachte die Prinzessin ihm den Wein. "Für klare Gedanken", sagte sie zwinkernd. Der Prinz trank und schlief fester als zuvor. Die Prinzessin kam wieder und nahm ihm diesmal ein seidenes Tuch ab, das er um den Hals trug.
Am dritten Morgen war der Prinz schon ganz verzagt. Er dachte und dachte, aber das Rätsel blieb ungelöst. Am Abend reichte ihm die Prinzessin zum dritten Mal den Becher. "Vielleicht hilft es diesmal", meinte sie. Der Prinz trank und schlief wie ein Stein. Und die Prinzessin, listig wie sie war, schnitt ihm eine kleine Locke von seinem Haar ab.
Als der Prinz am nächsten Morgen erwachte, war die Zeit um. Er war sehr traurig, denn er wusste die Antwort immer noch nicht. "Ach", dachte er, "nun muss ich gehen." Er wanderte hinaus in den Wald, um seinen Kummer ein wenig zu vergessen. Da kam er zu einem alten, hohlen Baum. Er setzte sich darunter und seufzte.
Plötzlich hörte er über sich ein leises Tuscheln und Krächzen. Drei Raben saßen auf den Ästen. Der erste Rabe krächzte: "Die Prinzessin ist so schlau! Dem Prinzen hat sie einen Ring gestohlen, als er schlief!"
Der zweite Rabe krächzte: "Und ein Seidentuch hat sie ihm auch genommen! Hihi!"
Der dritte Rabe aber krächzte am lautesten: "Und eine Haarlocke! Aber ihr Rätsel, pah! Das ist doch einfach! Sie hat ein rohes Ei gegessen, das sie in einem Vogelnest fand. Und als Würze hat sie ein bisschen Salz genommen, das sie von einem alten, weißen Knochen gekratzt hat, der im Walde lag!"
Als der Prinz das hörte, sprang er auf! "Das ist es!", rief er. "Das ist die Lösung!" Und er wusste nun auch, was die Prinzessin ihm heimlich genommen hatte.
Schnell lief er zurück zum Schloss. Die Prinzessin wartete schon und lächelte ein wenig spöttisch. "Nun, Prinz", fragte sie, "weißt du die Antwort?"
"Ja, das weiß ich!", sagte der Prinz. "Du hast etwas gegessen, das weder gekocht noch gebraten war: ein rohes Ei aus einem Nest, und gewürzt hast du es mit Salz von einem Knochen."
Die Prinzessin wurde ganz blass vor Überraschung.
"Und noch etwas weiß ich", fuhr der Prinz fort. "Während ich schlief, hast du mir meinen goldenen Ring genommen." Er zeigte auf seinen leeren Finger. "Und mein seidenes Halstuch." Er fasste sich an den Hals. "Und eine Locke von meinem Haar." Er strich sich über den Kopf.
Da musste die Prinzessin lachen. "Du bist ja noch klüger, als ich dachte!", rief sie. "Du hast mein Rätsel gelöst und meine kleinen Geheimnisse entdeckt! Du sollst mein Mann werden!"
Und so feierten sie eine große, fröhliche Hochzeit. Der Prinz und die kluge Prinzessin lebten glücklich und zufrieden zusammen, und wenn sie nicht gestorben sind, dann rätseln sie vielleicht heute noch manchmal zum Spaß.
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