• Der weggeworfene Faden

    Grimms Märchen
    In einem kleinen, gemütlichen Häuschen wohnte einst ein Mädchen ganz allein. Ihre Eltern waren nicht mehr da, aber eine liebe Tante hatte ihr alles beigebracht, was man zum Leben braucht: spinnen, weben und nähen. Als die Tante starb, hinterließ sie dem Mädchen das Häuschen und drei besondere Dinge: eine Spindel, ein Weberschiffchen und eine Nähnadel. "Pass gut darauf auf", hatte sie gesagt, "sie werden dir Glück bringen."

    Das Mädchen war sehr fleißig. Jeden Tag spann es mit der Spindel feines Garn, webte mit dem Weberschiffchen Stoffe und nähte mit der Nadel Kleider.

    Zur selben Zeit suchte der junge Prinz des Landes eine Frau. Er wollte aber nicht irgendeine Prinzessin. Nein, er sagte: "Ich heirate die, die zugleich die Ärmste und die Reichste ist." Das klang ein bisschen verrückt, fandest du nicht auch? Aber der Prinz wusste genau, was er meinte.

    Eines Tages, als das Mädchen gerade spann, hüpfte die Spindel plötzlich aus ihrer Hand! "Huch!", rief das Mädchen. Die Spindel aber tanzte fröhlich zur Tür hinaus und zog einen glänzenden, goldenen Faden hinter sich her. Sie rollte und rollte, direkt auf die große Straße, auf der bald der Prinz vorbeikommen sollte.

    Als die Spindel verschwunden war, nahm das Mädchen traurig das Weberschiffchen, um weiterzuarbeiten. Kaum hatte es angefangen, da sah das Weberschiffchen durchs Fenster die Kutsche des Prinzen näherkommen. Schwupps! Sprang auch das Weberschiffchen aus der Hand des Mädchens, sauste aus dem Haus und begann, einen wunderschönen Teppich zu weben. Der Teppich war so prächtig, mit Blumen und Sternen, und er reichte vom kleinen Häuschen bis direkt vor die Kutsche des Prinzen.

    Das Mädchen staunte nur noch. "Was ist denn heute los?", dachte es und nahm die Nähnadel, um wenigstens ein kleines Loch in seinem Kleid zu flicken. In dem Moment stieg der Prinz aus seiner Kutsche und ging auf dem wunderbaren Teppich zum Haus. Die Nadel sah ihn, und zisch! Sprang auch sie davon. Sie flitzte wie ein kleiner Blitz durch das Häuschen. Sie nähte Kissen auf die einfachen Stühle, eine feine Decke auf den Tisch und schmückte das Bett mit Vorhängen aus Seide und Gold. Im Nu sah das kleine, arme Häuschen innen aus wie ein Palast!

    Der Prinz folgte dem goldenen Faden, den die Spindel gelegt hatte. Dann betrat er den prächtigen Teppich und kam zur Tür. Als er eintrat, traute er seinen Augen kaum. Drinnen war alles so reich geschmückt! Und da stand das Mädchen in seinem einfachen Kleid, aber es lächelte so freundlich, dass es schöner war als alle Edelsteine.

    Der Prinz sah den goldenen Faden, den Teppich und die kostbaren Stickereien. Er lächelte. "Du bist die Ärmste", sagte er, "denn du lebst hier bescheiden. Aber du bist auch die Reichste, denn dein Fleiß und deine guten Hände haben all diese Wunder geschaffen." Er wusste natürlich nicht, dass die Spindel, das Weberschiffchen und die Nadel ein bisschen geholfen hatten, aber das war ihr kleines Geheimnis.

    Der Prinz nahm das Mädchen zur Frau, und sie feierten eine fröhliche Hochzeit. Die Spindel, das Weberschiffchen und die Nähnadel bekamen einen Ehrenplatz im königlichen Schloss und wurden immer gut behandelt. Und alle zusammen lebten sie noch lange glücklich und zufrieden.

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