Die faule Spinnerin
Grimms Märchen
In einem gemütlichen kleinen Haus, nicht weit von hier, lebte ein Mann mit seiner Frau. Der Mann war sehr fleißig und brachte jeden Tag Wolle und Flachs nach Hause, damit seine Frau daraus Garn spinnen konnte. Aber seine Frau, nun ja, die war ein bisschen faul, besonders wenn es ums Spinnen ging. Sie mochte es viel lieber, in der Sonne zu dösen oder den Vögeln zuzuhören.
Eines Tages brachte der Mann einen riesigen Berg Flachs mit. "Liebling," sagte er, "bitte spinn diesen Flachs zu feinem Garn. Wir brauchen es dringend."
Die Frau seufzte. "Oh je," dachte sie, "Spinnen ist so langweilig!" Aber sie sagte: "Natürlich, mein Schatz, das mache ich."
Sobald ihr Mann zur Arbeit gegangen war, überlegte die Frau. Spinnen? Nein danke! Stattdessen versteckte sie den ganzen Flachs heimlich in einer alten Kiste auf dem Dachboden. Jeden Tag, wenn ihr Mann fragte, ob sie schon viel gesponnen hätte, antwortete sie: "Ja, ja, ein ganzes Stück! Es wird wunderschön!"
Nach ein paar Tagen wurde der Mann neugierig. "Zeig mir doch mal das tolle Garn, das du gesponnen hast", bat er.
Die Frau bekam einen Schreck, aber dann hatte sie eine pfiffige Idee. Sie holte ihre leere Garnwinde, das ist ein Gestell, auf das man das gesponnene Garn aufwickelt. Sie tat so, als wäre unsichtbares Garn darauf.
"Schau nur, wie fein es ist!", sagte sie und tat so, als würde sie einen Faden von der Winde nehmen. "Man kann es kaum sehen, so zart ist es!"
Der Mann schaute und schaute, aber er sah natürlich nichts. "Hm," machte er, "es ist wirklich sehr fein."
"Ja," sagte die Frau stolz, "und jetzt ist die Winde voll. Du musst den Faden abschneiden, damit ich weiterspinnen kann."
Der Mann nahm eine Schere. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, den unsichtbaren Faden zu finden. Schließlich machte er einfach "Schnipp-Schnapp" mit der Schere in die Luft.
"Oh nein!", rief da die Frau entsetzt. "Was hast du getan? Du hast meinen wunderschönen, hauchfeinen Faden zerschnitten! All die Mühe umsonst!" Sie tat so, als wäre sie furchtbar traurig.
Der Mann erschrak. Er dachte, er hätte wirklich etwas ganz Kostbares kaputt gemacht. "Es tut mir so leid!", stotterte er. "Ich habe es nicht gesehen."
Von diesem Tag an traute sich der Mann nicht mehr, seine Frau zu bitten, das "unsichtbare" Garn anzufassen oder gar zu schneiden. Und weil er dachte, sie spinne so unglaublich feines Garn, das man kaum sehen konnte, lobte er sie oft für ihre angebliche Fleißarbeit. Die faule Spinnerin aber freute sich, denn sie musste nie wieder wirklich spinnen und hatte ihre Ruhe. Und den Flachs? Den holte sie erst viel später heimlich wieder hervor, als ihr Mann ihn längst vergessen hatte.
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