• Die klare Sonne bringt es an den Tag

    Grimms Märchen
    Stellt euch vor, es gab einmal einen Schneidergesellen, der hieß Fritz. Fritz war auf Wanderschaft, aber sein Geldbeutel war so leer wie eine Nussschale nach dem Knacken. Er brauchte dringend ein paar Taler.

    Eines Tages, als er durch einen dichten Wald wanderte, traf er einen alten Mann. Der Mann sah freundlich aus, aber Fritz hatte eine nicht so gute Idee. "Hallo, alter Mann!", rief Fritz. "Dein Geldbeutel sieht schwerer aus als meiner. Gib mir dein Geld, sonst passiert was!"

    Der alte Mann erschrak sehr. Er gab Fritz ein paar Münzen und sagte mit zitternder Stimme: "Nimm es, aber denk daran: Die helle Sonne wird es an den Tag bringen."

    Fritz lachte nur. "Die Sonne? Was soll die schon machen?" Er war aber noch nicht zufrieden und weil er so gierig war, nahm er dem alten Mann alles weg, was er bei sich trug, und tat ihm etwas sehr Schlimmes an. Dann rannte er schnell weiter.

    Viele Jahre zogen ins Land. Fritz wurde ein berühmter Schneider in einer großen Stadt. Er hatte eine nette Frau und zwei fröhliche Kinder. An den alten Mann im Wald dachte er schon lange nicht mehr.

    An einem sonnigen Morgen saß Fritz mit seiner Frau beim Frühstück. Die Sonne schien hell durch das Fenster. Ein Sonnenstrahl fiel genau auf seine Kaffeetasse und von dort als heller Lichtpunkt an die weiße Wand. Fritz starrte auf den Lichtpunkt und murmelte leise vor sich hin, ohne nachzudenken: "Ja, ja, sie will es an den Tag bringen, aber sie kann es nicht!" Dann nahm er einen Schluck Kaffee.

    Seine Frau hatte aber gute Ohren. "Was sagst du da, Fritz?", fragte sie neugierig. "Was will die Sonne an den Tag bringen und kann es nicht?"

    Fritz erschrak. "Ach, nichts, Liebling, nur so ein alter Spruch", versuchte er sich herauszureden. Aber seine Frau ließ nicht locker. Sie fragte und fragte, bis Fritz seufzte. Er erzählte ihr die ganze Geschichte von dem alten Mann im Wald und was er Schlimmes getan hatte. "Aber du darfst es niemandem, wirklich niemandem erzählen!", bat er seine Frau.

    Seine Frau versprach es. Aber so ein großes Geheimnis ist schwer zu behalten, wie ein Kichern, das unbedingt raus will. Also erzählte sie es ihrer besten Freundin, der Bäckerin, aber natürlich unter strengster Geheimhaltung. Die Bäckerin erzählte es ihrem Mann, der Müller, und der erzählte es dem Schmied, und so ging die Geschichte wie ein Lauffeuer durch die ganze Stadt.

    Bald wussten alle, was der Schneider Fritz vor vielen Jahren getan hatte. Die Stadtwachen kamen und nahmen Fritz mit. Er musste vor den Richter treten und alles gestehen.

    Und so wurde Fritz für seine böse Tat bestraft. Denn der alte Mann hatte Recht behalten: Die helle Sonne bringt es an den Tag. Manchmal nicht sofort, aber irgendwann kommt die Wahrheit immer ans Licht.

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