Die klugen Leute
Grimms Märchen
In einem kleinen Dorf, gar nicht weit von hier, lebte einmal ein junger Mann, der hieß Hans. Hans wollte heiraten, aber nur eine ganz besonders kluge Frau. Da gab es Gretel. Ihre Eltern sagten: "Sie ist sehr klug!" Hans dachte: "Das will ich sehen!"
Eines Tages saßen sie alle zusammen. "Gretel," sagte die Mutter, "geh doch bitte in den Keller und hol uns etwas frisches Bier." Gretel nahm einen Krug und ging in den Keller. Während sie das Bier zapfte, schaute sie sich um. Da sah sie über dem Bierfass eine Spitzhacke an der Wand hängen, die wohl jemand dort vergessen hatte.
"Oh Schreck!", dachte Gretel. "Wenn ich Hans heirate, und wir bekommen ein Kind, und das Kind wird groß und geht Bier holen, dann könnte die Spitzhacke herunterfallen und das Kind erschlagen! Oh je, oh je!" Und sie fing bitterlich an zu weinen, direkt neben dem Bierfass.
Oben warteten sie auf das Bier. "Wo bleibt Gretel nur?", fragte die Mutter. Sie schickte die Magd hinunter. Die Magd fand Gretel weinend. "Gretel, was ist denn los?", fragte sie. Gretel erzählte ihr von der Spitzhacke und dem möglichen Unglück mit dem zukünftigen Kind. "Ach, du Ärmste!", sagte die Magd und fing auch an zu weinen.
Als beide nicht wiederkamen, schickte der Vater den Knecht. Der Knecht fand die beiden weinenden Frauen. "Was weint ihr denn so?", fragte er. Als er die Geschichte hörte, seufzte er tief und sagte: "Ja, das ist wirklich ein schlimmes Unglück, das da passieren könnte!" Und er setzte sich zu ihnen und weinte mit.
Nun wurden die Eltern oben ungeduldig. Erst ging die Mutter hinunter. Als sie die drei Heulenden sah und den Grund erfuhr, stimmte sie auch in das Gejammer ein. Schließlich ging der Vater selbst in den Keller. "Was ist denn hier für ein Trauerkonzert?", fragte er. Als ihm alles erklärt wurde, rief er: "Ach, was für ein Unglück!" und weinte lauter als alle anderen.
Hans wartete und wartete. Schließlich ging er selbst nachsehen. Im Keller fand er die ganze Gesellschaft weinend. "Was ist denn passiert?", fragte er. Gretel erzählte ihm unter Tränen von der Spitzhacke, dem zukünftigen Kind und dem drohenden Unheil. Da lachte Hans und sagte: "Liebe Gretel, mehr Klugheit brauche ich für meinen Haushalt nicht. Weil du so vorausschauend bist, will ich dich heiraten!" Er nahm sie bei der Hand, und bald darauf war Hochzeit.
Einige Zeit später musste Hans in den Wald, um Holz zu fällen. Er sagte zu Gretel: "Ich bin bald zurück. Koch du inzwischen etwas Gutes für uns und zapf ein frisches Bier, damit wir essen können, wenn ich komme."
"Ja, lieber Hans, das mache ich", sagte Gretel.
Als Hans weg war, stellte Gretel einen Topf mit Brei auf den Herd. Dann ging sie in den Keller, um Bier zu zapfen. Während das Bier in den Krug lief, dachte sie: "Bevor der Brei anbrennt, schaue ich lieber noch einmal nach." Sie zog den Zapfhahn aber nicht aus dem Fass, sondern lief schnell nach oben. In der Küche sah sie, dass alles in Ordnung war. "Ach," dachte sie, "ein Schlückchen Bier wäre jetzt gut." Sie ging wieder in den Keller. Um nicht immer hin und her laufen zu müssen, nahm sie einen Stuhl und setzte sich neben das Fass.
Das Bier lief und lief. Gretel wurde müde vom Zuschauen. "Ein kleines Nickerchen kann nicht schaden", murmelte sie und schlief ein.
Währenddessen kochte oben der Brei über und brannte im Topf an. Unten lief das Bierfass leer, und der ganze Kellerboden war überschwemmt.
Als Gretel endlich aufwachte, sah sie das Malheur. "Oh je, was nun?", rief sie. "Wenn Hans das sieht!" Schnell streute sie Mehl auf den überschwemmten Kellerboden, damit man das Bier nicht so sah.
Hans kam nach Hause. "Gretel, wo bist du? Ist das Essen fertig?"
"Ach, Hans", rief Gretel aus dem Keller, "ich habe nur schnell das Bierfass sauber gemacht!"
Hans ging in die Küche. Der Brei war verbrannt. "Gretel!", rief er.
Da kam Gretel aus dem Keller, ganz mit Mehl bestäubt. "Schau nicht so böse, Hans! Ich wollte nur alles schön machen."
Hans war aber doch ein bisschen ärgerlich. Am nächsten Tag sagte er: "Gretel, heute gehst du aufs Feld und schneidest Korn."
"Ja, lieber Hans", sagte sie. Sie nahm etwas zu essen mit und ging aufs Feld. Dort dachte sie: "Esse ich zuerst oder arbeite ich zuerst? Ach, ich esse zuerst." Sie aß, und davon wurde sie müde und legte sich ins Korn und schlief ein.
Hans kam nach Hause und Gretel war nicht da. "Sie ist sicher noch fleißig auf dem Feld", dachte er und ging ihr entgegen. Er sah, wie jemand im Korn lag und dachte, es wäre Gretel, die Korn schnitt. Aber als er näherkam, sah er, dass sie schlief. Er wurde zornig, lief nach Hause, holte eine Vogelfalle mit kleinen Glöckchen und hängte sie Gretel um, ohne dass sie aufwachte. Dann ging er heim und schloss die Tür ab.
Als es dunkel wurde, wachte Gretel auf. Sie stand auf, und bei jeder Bewegung bimmelten die Glöckchen. Sie erschrak. "Bin ich Gretel oder bin ich es nicht?", fragte sie sich verwirrt. Sie wusste nicht, was sie denken sollte und lief umher. Schließlich lief sie zum Dorf.
Vor ihrem Haus war die Tür verschlossen. Sie klopfte am Fenster. "Hans, lass mich rein!"
Hans rief von drinnen: "Bist du Gretel?"
"Ja, ich bin's!", rief sie.
"Und warum bimmelst du so komisch?", fragte Hans.
"Ach, Hans", sagte sie, "ich glaube, ich bin nicht mehr ganz ich selbst!"
Hans dachte: "Meine Frau ist wirklich sehr klug, aber manchmal auch ein bisschen seltsam." Er öffnete die Tür und schmunzelte. "Na komm rein, du kluges Ding." Und er wusste, dass das Leben mit seiner klugen Gretel niemals langweilig werden würde.
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