Der Flieder
Grimms Märchen
Wisst ihr, es gab einmal eine Königin, die wünschte sich nichts sehnlicher als ein Kind. Jeden Tag seufzte sie: "Ach, wenn ich doch nur ein Söhnchen hätte, und wenn es auch nur so klein wie eine Nelke wäre!" Und stellt euch vor, ihr Wunsch ging in Erfüllung! Sie bekam einen kleinen Jungen, der war wirklich so zart und schön wie eine rosa Nelke.
Die Königin liebte ihren Nelkenprinzen über alles und bewahrte ihn in einem gläsernen Kästchen auf, damit ihm nichts geschah. Aber im Schloss gab es eine böse Köchin. Die Köchin war eifersüchtig auf den kleinen Prinzen und dachte sich: "Diesen Blumenjungen muss ich loswerden!"
Eines Tages, als die Königin nicht hinsah, stahl die böse Köchin den Nelkenprinzen aus dem Kästchen. Schnell legte sie eine ganz gewöhnliche Blume hinein. Dann rannte sie zur Königin und rief mit gespielter Trauer: "Oh Schreck, oh Schreck, der Prinz ist weg! Ein großer Vogel hat ihn geholt!" Die arme Königin war untröstlich und weinte bitterlich.
Die böse Köchin aber warf den echten Nelkenprinzen heimlich auf den Misthaufen hinter dem Schloss. Doch was geschah? Aus der kleinen Nelke wuchs ein wunderschöner, kräftiger Junge heran! Er war nicht nur hübsch, sondern auch klug. Und das Tollste war: Er konnte sich jederzeit wieder in eine Nelke verwandeln und dann wieder zurück in einen Jungen, wann immer er wollte.
Jeden Tag schlich sich der Junge als duftende Nelke ins Zimmer seiner Mutter. Er stellte sich heimlich in eine Vase auf dem Tisch. Die Königin bemerkte die schöne Blume und freute sich über ihren Duft, ohne zu ahnen, wer es war. Sie fühlte sich immer ein wenig getröstet, wenn die Nelke da war.
Die böse Köchin aber merkte, dass da jeden Tag eine neue, besonders schöne Nelke stand. "Das ist seltsam", dachte sie misstrauisch. "Diese Blume kenne ich doch!" Sie versuchte, die Nelke zu fangen. Einmal spannte sie ein feines Netz über die Vase, ein anderes Mal wollte sie die Blume schnell abschneiden. Aber der kluge Junge war immer schneller. "Du kriegst mich nicht!", rief er lachend, verwandelte sich blitzschnell wieder in einen Jungen und rannte davon, bevor die Köchin ihn packen konnte.
Eines Tages, als die Königin wieder einmal sehr traurig in ihrem Zimmer saß und um ihren verlorenen Sohn weinte, sprang der Junge aus der Vase hervor, direkt vor sie hin. "Mutter, liebe Mutter, ich bin es, dein Sohn!", rief er. "Die böse Köchin hat dich belogen!"
Die Königin konnte ihr Glück kaum fassen. Sie erkannte ihren Sohn sofort wieder und umarmte ihn überglücklich. Sie rief die Wachen, und die böse Köchin wurde erwischt. Zur Strafe musste sie das Schloss für immer verlassen und durfte nie wiederkommen.
Der Prinz aber lebte von nun an glücklich und zufrieden mit seiner Mutter im Schloss. Und wenn er Lust hatte, verwandelte er sich manchmal noch in eine wunderschöne, duftende Nelke, einfach nur zum Spaß.
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