• Der Sohn des Pförtners

    Andersens Märchen
    In einem großen, alten Haus, da wohnte einmal ein Portier mit seinem Sohn Georg. Der Portier passte auf, wer ins Haus kam und wer hinausging, und Georg spielte oft im Hof oder im Treppenhaus. Oben im Haus wohnte eine reiche Kaufmannsfamilie mit ihrer kleinen Tochter Emilie.

    Georg und Emilie waren fast gleich alt. Wenn Emilies Eltern nicht zu Hause waren, schlich sie sich manchmal nach unten und spielte mit Georg. Sie bauten Höhlen aus alten Decken im Keller oder spielten Verstecken hinter den großen Blumentöpfen im Flur. Georg war ein pfiffiger Junge und Emilie ein fröhliches Mädchen, und sie lachten viel zusammen.

    Aber als sie älter wurden, sahen sie sich nicht mehr so oft. Emilie bekam Privatlehrer und lernte feine Dinge wie Klavierspielen und Französisch. Georg musste seinem Vater helfen und lernte, wie man Türen repariert und Pakete annimmt. Er sah Emilie manchmal von weitem, wenn sie in einer schönen Kutsche davonfuhr, und wurde dann ein bisschen traurig.

    Georg war aber nicht nur stark, sondern auch klug und geschickt mit seinen Händen. Er liebte es, Dinge aus Holz zu schnitzen. Zuerst waren es kleine Tiere, dann immer kunstvollere Figuren. Er ging bei einem alten Holzschnitzer in die Lehre und wurde richtig gut darin. Alle staunten über seine schönen Arbeiten.

    Emilie war inzwischen zu einer hübschen jungen Dame herangewachsen. Ihre Eltern planten, sie mit einem reichen, vornehmen Herrn zu verheiraten. Emilie war darüber nicht sehr glücklich, denn der Herr war ziemlich langweilig.

    Eines Tages gab es eine große Kunstausstellung in der Stadt. Und wer stellte dort auch seine Werke aus? Genau, Georg! Er hatte eine wunderschöne Holzfigur geschnitzt: ein Mädchen, das Blumen im Arm hielt und ein bisschen verträumt aussah. Viele Leute sagten, es sähe Emilie ähnlich.

    Auch Emilie besuchte mit ihren Eltern die Ausstellung. Als sie vor Georgs Figur stand, blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie erkannte sofort, dass Georg sie geschnitzt haben musste. Ihr Herz klopfte ganz aufgeregt. Sie erinnerte sich an die Zeit, als sie zusammen gespielt hatten.

    Sogar der junge Prinz der Stadt kam zur Ausstellung. Er war so begeistert von Georgs Figur, dass er den Künstler kennenlernen wollte. Als Georg vor ihm stand, erzählte er dem Prinzen seine Geschichte – wie er als Sohn des Portiers aufgewachsen war und wie er das Schnitzen gelernt hatte. Er erzählte auch, wer ihn zu dieser Figur inspiriert hatte, ohne Emilies Namen zu nennen, aber der Prinz verstand.

    Der Prinz war ein kluger Mann. Er sprach mit Emilies Eltern und erzählte ihnen, welch ein begabter Künstler Georg sei. Er meinte, Talent und ein gutes Herz seien oft mehr wert als Reichtum.

    Emilies Eltern dachten lange nach. Sie sahen, wie glücklich Emilie war, als sie Georg wiedersah, und sie erkannten, dass Georg ein ehrlicher und talentierter junger Mann war.

    Und so kam es, dass Georg, der Sohn des Portiers, Emilie heiraten durfte. Sie zogen in ein eigenes kleines Haus mit einem Garten, und Georg wurde ein berühmter Holzschnitzer, dessen Kunstwerke im ganzen Land bewundert wurden. Und manchmal, wenn niemand zusah, bauten sie immer noch Höhlen aus Decken, einfach so, zum Spaß.

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