• Daumesdick

    Grimms Märchen
    In einem gemütlichen, aber sehr armen Häuschen tief im Wald lebte ein Holzhacker mit seiner Frau und ihren sieben Söhnen. Der Jüngste war so klein wie ein Daumen, deshalb nannten ihn alle Daumesdick. Er war zwar winzig, aber sehr klug.

    Eines Abends, als kein Brot mehr im Haus war und die Mägen knurrten, sagten die Eltern mit schweren Herzen zueinander: "Wir müssen die Kinder in den Wald bringen, sonst verhungern wir alle." Daumesdick, der nicht schlafen konnte, hörte das Gespräch mit seinen spitzen Ohren. Schnell schlich er sich aus dem Haus und sammelte viele kleine, weiße Kieselsteine, die im Mondlicht glänzten. Er steckte sie in seine Hosentasche.

    Am nächsten Morgen, noch bevor die Sonne aufging, weckten die Eltern die Kinder. "Kommt, wir gehen Holz sammeln", sagten sie. Als sie tief in den Wald hineingingen, ließ Daumesdick heimlich einen Kieselstein nach dem anderen auf den Weg fallen. Mitten im dichtesten Wald machten die Eltern ein Feuer und sagten: "Wartet hier, wir holen nur schnell etwas zu essen." Aber sie kamen nicht zurück.

    Als es dunkel wurde, fingen die Brüder an zu weinen. Aber Daumesdick sagte: "Keine Angst, folgt mir!" Die weißen Kieselsteine leuchteten im Mondlicht und zeigten ihnen den Weg zurück zum Haus der Eltern. Die Eltern waren überrascht, aber auch ein bisschen froh, ihre Kinder wiederzusehen.

    Doch das Glück hielt nicht lange an. Bald war das Essen wieder knapp. Wieder hörte Daumesdick, wie die Eltern planten, sie im Wald zurückzulassen. Diesmal war die Tür verschlossen, und er konnte keine Kieselsteine sammeln. So nahm er am nächsten Morgen sein kleines Stück Brot und streute winzige Brotkrümel auf den Weg.

    Wieder ließen die Eltern die Kinder im Wald allein. Aber als Daumesdick nach den Brotkrümeln suchte, waren sie verschwunden! Die vielen Vögel des Waldes hatten sie alle aufgepickt. Nun waren die Kinder wirklich verloren. Sie irrten hungrig und müde umher.

    Endlich sahen sie in der Ferne ein Licht. Es kam von einem großen Haus. Sie klopften an, und eine freundliche Frau öffnete. "Ach, ihr armen Kinder", sagte sie, "aber hier wohnt ein Riese, und der frisst kleine Kinder!" Doch die Kinder waren so müde, dass sie trotzdem blieben. Die Frau versteckte sie unter den Betten.

    Als der Riese nach Hause kam, schnupperte er und brüllte: "Ich rieche Menschenfleisch!" Die Frau versuchte ihn zu beruhigen, aber der Riese fand die Kinder. "Morgen früh werde ich sie verspeisen!", sagte er und lachte böse.

    Der Riese hatte sieben Töchter, die auch im Zimmer schliefen. Sie trugen kleine goldene Krönchen auf dem Kopf. Daumesdick hatte eine schlaue Idee. Mitten in der Nacht, als alle schliefen, nahm er die Krönchen von den Köpfen der Riesentöchter und setzte sie seinen Brüdern und sich selbst auf. Die einfachen Nachtmützen der Jungen setzte er den Riesentöchtern auf.

    Früh am Morgen schlich der Riese ins Zimmer, um die Jungen zu holen. Im Dunkeln tastete er nach den Köpfen. Er fühlte die einfachen Mützen und dachte, es wären die Jungen. So erwischte er aus Versehen seine eigenen Töchter. (Keine Sorge, in manchen Geschichten schläfert er sie nur ein oder sperrt sie weg, aber er tut ihnen nicht wirklich weh.)

    Daumesdick weckte schnell seine Brüder, und sie schlichen sich aus dem Haus. Der Riese bemerkte bald seinen Irrtum und wurde furchtbar wütend. Er zog seine Siebenmeilenstiefel an – mit jedem Schritt konnte er sieben Meilen weit gehen! Damit holte er die Kinder bald ein. Doch der Riese war vom vielen Laufen müde geworden und legte sich unter einen Baum, um ein Nickerchen zu machen. Er schnarchte so laut, dass die Blätter zitterten.

    Ganz leise schlich sich Daumesdick an den schlafenden Riesen heran. Vorsichtig zog er ihm die großen Siebenmeilenstiefel von den Füßen. Wie durch ein Wunder passten die Stiefel dem winzigen Daumesdick perfekt! Er zog sie an, weckte seine Brüder und sagte: "Lauft nach Hause, ich komme nach!"

    Mit den Siebenmeilenstiefeln war Daumesdick unglaublich schnell. Er lief zum König und bot sich als Bote an. Er überbrachte Nachrichten schneller als der Wind und wurde dafür reich belohnt. Mit Taschen voller Gold kehrte Daumesdick zu seiner Familie zurück.

    Die Eltern weinten vor Freude, als sie ihn sahen. Von nun an mussten sie nie wieder Hunger leiden. Und Daumesdick, der kleine, kluge Junge, wurde im ganzen Land berühmt für seinen Mut und seine Schlauheit. Sie lebten alle noch lange glücklich und zufrieden zusammen.

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