Die Geschichte einer Mutter
Andersens Märchen
Eine Mutter saß neben ihrem kleinen, kranken Kind. Sie war so müde, aber sie wollte nicht schlafen, denn sie passte auf ihr Baby auf. Plötzlich klopfte es leise an der Tür. Ein alter, gebückter Mann trat ein. Er sah aus, als wäre er schon sehr, sehr lange unterwegs gewesen. "Ich bin der Tod", sagte er mit sanfter Stimme. Während die Mutter für einen winzigen Augenblick die Augen schloss, nahm der Tod das Kind ganz sacht auf den Arm und verschwand mit ihm in der Nacht.
Als die Mutter die Augen wieder öffnete, war das Bettchen leer! "Mein Kind!", rief sie und rannte hinaus in die Dunkelheit.
Draußen traf sie die Nacht. "Liebe Nacht", flehte die Mutter, "hast du gesehen, wohin der Tod mein Kind gebracht hat?"
Die Nacht antwortete: "Ich habe ihn gesehen. Aber ich sage dir nur den Weg, wenn du mir jedes einzelne Schlaflied singst, das du je deinem Kind vorgesungen hast."
Die Mutter sang und sang, mit Tränen in den Augen, all die Lieder, die sie kannte. Ihre Stimme wurde heiser, aber sie sang weiter. Als sie fertig war, sagte die Nacht: "Geh dort entlang, wo der Wind am kältesten weht."
Die Mutter eilte weiter und kam zu einem dichten Dornbusch, der ganz mit Eis bedeckt war. "Lieber Dornbusch", bat sie, "hast du den Tod mit meinem Kind vorbeigehen sehen?"
Der Dornbusch zischte: "Ja, aber ich lasse dich nur durch, wenn du mich an deiner warmen Brust wärmst, bis meine Zweige wieder grün werden."
Die Mutter zögerte nicht. Sie drückte den eiskalten Dornbusch fest an sich. Die Dornen stachen sie, und ihr warmes Blut tropfte auf die Zweige. Sofort schmolz das Eis, und der Busch begann zu blühen. "Der Tod ist zum See gegangen", sagte der Dornbusch und zeigte ihr den Weg.
Die Mutter rannte zum See. Er war tief und breit. "Lieber See", rief sie, "wie komme ich hinüber? Der Tod hat mein Kind!"
Der See antwortete: "Ich trage dich hinüber, wenn du all deine Tränen für mich weinst, bis deine Augen leer sind."
Die Mutter weinte und weinte, bis ihre schönen Augen in den See fielen und zu Perlen wurden. Der See hob sie sanft an und trug sie ans andere Ufer.
Dort stand ein großes, seltsames Gewächshaus. Eine alte Frau, die Gärtnerin des Todes, fegte davor. "Gute Frau", fragte die Mutter, "wo finde ich mein Kind?"
Die alte Frau sagte: "Der Tod ist noch nicht zurück. Aber hier drinnen wächst jedes Menschenleben als eine Blume oder ein Baum. Dein Kind ist auch hier. Du wirst es an seinem Herzschlag erkennen."
Die Mutter ging hinein. Tausende von Blumen und Bäumchen standen dort, große und kleine, prächtige und unscheinbare. Sie lauschte angestrengt und hörte schließlich bei einer kleinen, zarten Blume ein winziges Herz pochen. "Das ist es!", rief sie.
In diesem Moment kam der Tod herein. "Wie hast du hierher gefunden?", fragte er.
"Ich bin eine Mutter!", antwortete sie. "Gib mir mein Kind zurück, oder ich reiße alle deine Blumen aus!"
Der Tod seufzte. "Schau", sagte er und zeigte auf zwei Blumen. "Diese hier hätte ein langes, aber sehr unglückliches Leben gehabt. Und diese andere hier, dein Kind, hätte ein kurzes, aber von Gott gesegnetes Leben gehabt, bevor es zu ihm zurückkehrt. Was ist besser?"
Er zeigte der Mutter Bilder aus der Zukunft ihres Kindes: einmal ein Leben voller Sorgen und Krankheit, und einmal ein kurzes, aber helles und fröhliches Leben, das dann sanft in Gottes Reich übergeht.
Die Mutter sah die Bilder und verstand. Ihr Herz war schwer, aber sie wusste, was richtig war. "Dein Wille geschehe", flüsterte sie zum Himmel. "Es ist besser, wenn es zu Gott geht und Frieden findet."
Sie beugte ihr Haupt, und der Tod nahm die kleine Blume, ihr Kind, und trug es fort in Gottes ewigen Garten. Die Mutter aber fühlte, obwohl ihr Herz schmerzte, einen tiefen Frieden, denn sie wusste, ihr Kind war nun an einem guten Ort.
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