Der kleine Klaus und der große Klaus
Andersens Märchen
In einem Dorf, wo die Hühner auf den Dächern gackerten und die Katzen in der Sonne dösten, lebten zwei Männer. Beide hießen Klaus, aber um sie auseinanderzuhalten, nannte man den einen den kleinen Klaus und den anderen den großen Klaus. Der kleine Klaus hatte nur ein einziges Pferd, während der große Klaus vier Pferde besaß.
Jeden Sonntag lieh sich der kleine Klaus die vier Pferde vom großen Klaus aus, um sein Feld zu pflügen. Dann spannte er sein eigenes Pferd mit den vier geliehenen Pferden vor den Pflug und rief stolz: "Hü, alle meine Pferde!" Das hörte der große Klaus gar nicht gern. "Du hast nur ein Pferd!", brummte er. "Sag nicht 'alle meine Pferde'!" Aber der kleine Klaus vergaß es immer wieder.
Eines Sonntags wurde der große Klaus so wütend, dass er mit einer Axt das einzige Pferd vom kleinen Klaus erschlug. Der kleine Klaus war sehr traurig. Er zog dem toten Pferd die Haut ab, ließ sie trocknen, packte sie in einen Sack und machte sich auf den Weg in die nächste Stadt, um die Pferdehaut zu verkaufen.
Als es Abend wurde und ein Gewitter aufzog, kam er an einem großen Bauernhof vorbei. Er klopfte an und bat um ein Nachtlager. Die Bäuerin öffnete, aber ihr Mann war nicht zu Hause. Sie ließ den kleinen Klaus herein, gab ihm aber nur Wasser und ein Stück trockenes Brot, denn sie erwartete heimlich den Küster zum Abendessen und hatte einen reich gedeckten Tisch mit Braten, Kuchen und Wein vorbereitet.
Kaum hatte sich der kleine Klaus in eine Ecke gesetzt, hörte man den Bauern heimkommen. Schnell versteckte die Bäuerin den Braten im Ofen, den Wein und den Kuchen im Backtrog und den Küster in einer großen Kiste. Der Bauer kam herein und sah den kleinen Klaus. "Was machst du hier?", fragte er. Die Bäuerin erklärte, dass der kleine Klaus um ein Nachtlager gebeten hatte.
Sie setzten sich zum kargen Mahl. Der kleine Klaus aber trat unauffällig auf seinen Sack mit der Pferdehaut, sodass es quietschte. "Psst!", sagte er. "Was sagt dein Sack denn?", fragte der Bauer neugierig. "Er sagt," flüsterte der kleine Klaus, "dass die Bäuerin einen herrlichen Braten im Ofen versteckt hat!" Der Bauer schaute nach und fand tatsächlich den Braten. Erstaunt fragte er: "Kann dein Sack noch mehr?" Der kleine Klaus trat wieder auf den Sack. "Er sagt, da ist auch Kuchen und Wein im Backtrog!" Wieder fand der Bauer alles.
"Dieser Sack ist ja ein Zaubersack!", rief der Bauer. "Was sagt er noch?" Der kleine Klaus trat kräftig auf den Sack. "Er sagt, in der großen Kiste dort drüben sitzt der Teufel!" Der Bauer wurde blass. "Ich will den Teufel nicht in meinem Haus!" Die Bäuerin zitterte. Der kleine Klaus sagte: "Mein Sack sagt, der Teufel sieht aus wie ein Küster." Der Bauer machte die Kiste auf und da saß der Küster, zitternd vor Angst. Der Bauer jagte ihn davon.
Der Bauer war so begeistert von dem "Zaubersack", dass er dem kleinen Klaus einen ganzen Scheffel voll Geld dafür bot. Der kleine Klaus gab ihm den Sack mit der Pferdehaut und ging mit dem Geld fröhlich nach Hause.
Als der große Klaus sah, wie viel Geld der kleine Klaus hatte, fragte er, woher es käme. "Ach," sagte der kleine Klaus, "ich habe meine Pferdehaut für einen Scheffel Geld verkauft." Der große Klaus dachte: "Wenn eine Pferdehaut so viel wert ist, was bekomme ich dann erst für vier?" Er nahm sofort seine Axt, erschlug seine vier Pferde, zog ihnen die Haut ab und ging damit in die Stadt. "Pferdehäute zu verkaufen! Ein Scheffel Geld pro Stück!", rief er. Die Leute lachten ihn aus und jagten ihn davon.
Wütend kehrte der große Klaus nach Hause zurück. Er packte den kleinen Klaus in einen Sack und wollte ihn im Fluss ertränken. Unterwegs kam er an einer Kirche vorbei und musste kurz hinein. Er ließ den Sack mit dem kleinen Klaus draußen stehen. Der kleine Klaus jammerte im Sack: "Ach, ich bin so jung und muss schon in den Himmel!" Ein alter Schäfer kam mit seiner Herde vorbei. "Was hast du?", fragte er. "Ich soll in den Himmel," klagte der kleine Klaus, "aber ich bin noch zu jung. Du bist alt, möchtest du nicht an meiner Stelle in den Himmel?" Der Schäfer wollte gern in den Himmel. Er öffnete den Sack, ließ den kleinen Klaus heraus, kroch selbst hinein, und der kleine Klaus band den Sack wieder zu. Dann nahm der kleine Klaus die ganze Schafherde des Schäfers und trieb sie davon.
Kurz darauf kam der große Klaus aus der Kirche, nahm den Sack und warf ihn in den Fluss. "So, das war's mit dir, kleiner Klaus!", dachte er.
Als er aber nach Hause ging, begegnete ihm der kleine Klaus mit einer großen Schafherde. Der große Klaus staunte: "Bist du das, kleiner Klaus? Ich dachte, ich hätte dich ertränkt! Woher hast du all die Schafe?" "Ach," sagte der kleine Klaus listig, "die habe ich vom Grund des Flusses geholt. Als du mich hineingeworfen hast, bin ich auf den Grund gesunken, und da unten wimmelt es nur so von Schafen! Das sind die schönsten Weiden."
"Wirklich?", rief der große Klaus. "Dann will ich auch welche!" Er rannte zum Fluss und sprang hinein, um Schafe zu holen. Aber er kam nie wieder herauf.
So erbte der kleine Klaus den Hof und das ganze Vermögen vom großen Klaus und lebte glücklich und zufrieden mit all seinen Schafen.
1236 Aufrufe