• Die Sage von Ōkuninushi

    Japanische Mythologie
    Hört mal zu, ich erzähle euch eine spannende Geschichte aus einem Land namens Japan, das ganz weit weg liegt.

    Dort lebten einmal viele, viele Prinzenbrüder. Der Jüngste von ihnen hieß Ōnamuji. Seine älteren Brüder waren oft ziemlich gemein zu ihm und lachten ihn aus. Eines Tages machten sich alle Brüder auf den Weg, denn sie wollten eine wunderschöne Prinzessin namens Yagami heiraten, die im Land Inaba lebte. Ōnamuji musste, wie immer, die schweren Taschen für alle tragen und trottete traurig hinterher.

    Unterwegs, am Strand, sahen sie einen kleinen Hasen, der ganz ohne Fell war und bitterlich weinte. Die gemeinen Brüder fanden das lustig. "Hey Hase!", riefen sie. "Bade doch im salzigen Meerwasser und leg dich dann in den Wind zum Trocknen, dann geht's dir bestimmt besser!" Der arme Hase tat, was sie sagten, aber das Salzwasser brannte schrecklich auf seiner nackten Haut, und der Wind machte alles nur noch schlimmer. Aua!

    Als Ōnamuji endlich ankam, sah er den leidenden Hasen. "Oh, armer kleiner Hase", sagte er freundlich. "Was ist denn mit dir passiert?" Der Hase schluchzte und erzählte, dass er Krokodile überlistet hatte, um über das Meer zu hüpfen, aber das letzte Krokodil hatte ihn erwischt und ihm aus Wut das ganze Fell abgezogen.

    Ōnamuji hatte Mitleid. "Hör zu", sagte er sanft. "Wasche dich schnell im frischen Wasser aus dem Fluss dort drüben. Dann sammle die weichen Blütenpollen von den Schilfgräsern am Ufer und wälze dich darin." Der Hase hoppelte zum Fluss, wusch das Salz ab und rollte sich in den gelben Blütenstaub. Und siehe da! Sein Fell begann sofort wieder zu wachsen, weich und weiß wie zuvor.

    Der überglückliche Hase verbeugte sich tief vor Ōnamuji. "Du bist so gut und freundlich!", sagte er. "Nicht deine gemeinen Brüder, sondern du wirst Prinzessin Yagami heiraten!"

    Als die Brüder das hörten, wurden sie grün vor Neid. Sie beschlossen, Ōnamuji loszuwerden. Sie lockten ihn auf einen Berg und sagten: "Wir haben hier ein rotes Wildschwein gefangen. Fang es!" Aber es war kein Wildschwein, sondern ein riesiger, glühend heißer Felsbrocken, den sie den Berg hinunterrollten. Der Stein traf Ōnamuji, und er war... zerquetscht.

    Seine Mutter im Himmel, eine mächtige Göttin, sah das und weinte. Sie schickte zwei andere Göttinnen zur Erde. Die eine sammelte seine Teile, die andere bestrich sie mit einer heilenden Muschelpaste, und schwupps, war Ōnamuji wieder lebendig und noch schöner als zuvor!

    Aber die Brüder gaben nicht auf. Sie lockten ihn in einen Wald zu einem großen Baum, den sie gespalten und mit einem Keil offengehalten hatten. "Komm, hilf uns, hier ist noch ein Tier drin!" Als Ōnamuji hineinschaute, zogen sie den Keil weg, und der Baum schnappte zu. Wieder war Ōnamuji zerdrückt. Und wieder musste seine Mutter ihn mit Magie retten.

    Jetzt hatte seine Mutter genug. "Mein Sohn", sagte sie, "du musst zu dem mächtigen Gott Susanoo in die Unterwelt fliehen. Dort bist du vor deinen Brüdern sicher."

    Ōnamuji machte sich auf den langen Weg und kam schließlich im Reich des Susanoo an. Dort traf er Susanoos Tochter, die wunderschöne Prinzessin Suseri-hime. Die beiden verliebten sich auf den ersten Blick.

    Als Susanoo davon erfuhr, war er gar nicht begeistert. Er war ein grummeliger Gott und wollte Ōnamuji auf die Probe stellen. "Du willst meine Tochter?", brummte er. "Dann schlaf heute Nacht in diesem Zimmer!" Er schickte Ōnamuji in ein Zimmer voller giftiger Schlangen. Aber Suseri-hime gab Ōnamuji heimlich einen magischen Schal, der die Schlangen fernhielt.

    Am nächsten Abend sagte Susanoo: "Gut geschlafen? Dann versuch es heute in diesem Zimmer!" Diesmal war es voller riesiger Tausendfüßler und stechender Wespen. Wieder gab Suseri-hime Ōnamuji einen Schal, und wieder passierte ihm nichts.

    Susanoo wurde immer misstrauischer. Er schoss einen Pfeil auf ein riesiges Feld und zündete das Gras ringsherum an. "Hol mir meinen Pfeil!", befahl er. Ōnamuji rannte los, aber die Flammen kamen immer näher. Da kam eine kleine Maus angehuscht. "Schnell, hier in dieses Loch!", piepste sie. Ōnamuji sprang hinein, und das Feuer wütete über ihm hinweg. Als es vorbei war, brachte ihm die Maus den Pfeil.

    Zuletzt sagte Susanoo: "Kämm mir die Läuse aus dem Haar, Junge." Ōnamuji sah, dass Susanoos Haar voller Tausendfüßler war! Klug wie er war, nahm er rote Beeren und Nüsse in den Mund, zerkaute sie und spuckte die Stückchen aus, als wären es zerbissene Läuse. Susanoo war zufrieden und schlief dabei ein.

    Das war die Chance! Ōnamuji band Susanoos langes Haar heimlich an die Balken des Hauses. Dann nahm er Susanoos mächtiges Schwert, seinen Bogen und Pfeile und seine sprechende Harfe. Zusammen mit Suseri-hime rannte er davon. Als sie schon ein Stück entfernt waren, berührte die Harfe einen Baum und begann laut zu spielen. Susanoo wachte auf! Wütend riss er sich los, wobei fast das ganze Haus einstürzte, und jagte ihnen nach.

    Als er sie fast erreicht hatte, blieb er stehen und rief ihnen nach: "Ōnamuji! Mit diesem Schwert und Bogen, besiege deine bösen Brüder! Du sollst der Herrscher des Landes werden und dich Ōkuninushi nennen, der 'Große Meister des Landes'! Baue ein großes, starkes Haus und lebe glücklich mit meiner Tochter Suseri-hime!"

    Ōkuninushi tat, wie ihm geheißen. Er kehrte zurück, besiegte mit Leichtigkeit seine gemeinen Brüder und wurde, wie der Hase es vorausgesagt hatte, der Gemahl von Prinzessin Yagami. Und mit Suseri-hime an seiner Seite wurde er ein weiser und guter Herrscher über ein großes, blühendes Land. Er baute einen prächtigen Palast und alle Menschen liebten ihn, weil er so gütig und stark war.

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