• Die Gottesanbeterin, die den Wagen aufhalten wollte

    Chinesische Fabeln
    An einem warmen Sommertag saß eine kleine, grüne Gottesanbeterin auf einem Blatt am Straßenrand und putzte ihre Fühler. Nennen wir sie Frieda. Frieda war sehr selbstbewusst und dachte, sie wäre das stärkste Insekt weit und breit.

    Plötzlich erzitterte der Boden ein wenig und ein Geräusch wurde lauter. Rumpel, rumpel, trab, trab! Ein prächtiger Wagen, von zwei großen, starken Pferden gezogen, kam die staubige Straße entlanggerollt. Im Wagen saß ein Mann, der die Zügel hielt.

    Frieda, die Gottesanbeterin, sah den riesigen Wagen auf sich zukommen. "Was für ein Lärm!", dachte sie. "Und so groß! Der darf hier nicht einfach so vorbeifahren. Den muss ich sofort stoppen!"

    Mutig krabbelte Frieda von ihrem Blatt herunter und stellte sich mitten auf den Weg. Sie stellte sich auf ihre Hinterbeinchen, reckte ihren kleinen Körper und hob ihre gezackten Vorderarme drohend in die Luft, als wären es Schwerter. "Halt!", zirpte sie so laut sie konnte, was natürlich für Menschenohren kaum zu hören war. "Bis hierher und nicht weiter!"

    Der Kutscher, ein freundlicher Mann, sah das winzige grüne Ding auf der Straße. Er zügelte seine Pferde, die schnaubend zum Stehen kamen. Zuerst runzelte er die Stirn und fragte sich, was das wohl sei. Dann beugte er sich vor und sah die kleine Gottesanbeterin, die tapfer ihre Ärmchen schwang.

    Der Mann musste ein wenig schmunzeln. "Na so was!", dachte er. "Diese kleine Kämpferin will meinen großen Wagen aufhalten? Sie ist zwar winzig, aber sehr tapfer." Er fand es irgendwie bewundernswert, auch wenn es ein bisschen verrückt war.

    Weil er ein netter Mann war und das mutige Insekt nicht überfahren oder verletzen wollte, lenkte er die Pferde vorsichtig ein Stück zur Seite. Der große Wagen rollte langsam und mit etwas Abstand an Frieda vorbei.

    Frieda, die Gottesanbeterin, reckte sich stolz. Ihre Vorderarme hielt sie immer noch kampfbereit in der Luft, bis der Wagen ganz vorbei war. "Ha!", dachte sie zufrieden. "Ich hab's geschafft! Der Riesenwagen hat Angst vor mir bekommen und ist ausgewichen! Ich bin wirklich die Stärkste auf dieser Straße!"

    Und so saß Frieda weiter am Straßenrand, sehr zufrieden mit sich selbst, und sonnte sich in ihrem vermeintlichen Sieg. Sie wusste nicht, dass der Kutscher einfach nur freundlich gewesen war und sie nicht ernsthaft als Hindernis gesehen hatte. Aber sie war glücklich, und das ist ja auch schon was.

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