• Der Schatten des Bogens in der Tasse

    Chinesische Fabeln
    Stellt euch vor, in einem Land, wo die Drachen vielleicht noch leise schnarchten und die Kirschblüten besonders rosa blühten, lebte ein Mann namens Herr Lang. Herr Lang war ein bisschen ein Angsthase, aber ein sehr netter.

    Eines schönen Tages wurde Herr Lang von seinem Freund, dem Beamten Herr Kurz, zu einem Festessen eingeladen. Das Haus von Herr Kurz war sehr vornehm, mit vielen schönen Dingen an den Wänden. Herr Lang setzte sich an den Tisch, und Herr Kurz schenkte ihm einen Becher mit duftendem Tee ein.

    Als Herr Lang gerade trinken wollte, sah er etwas im Becher. Es war lang, dünn und bewegte sich ein ganz kleines bisschen, als er den Becher anhob. "Huch!", dachte Herr Lang. "Das sieht ja aus wie eine kleine Schlange!" Sein Herz machte einen kleinen Hüpfer. Aber Herr Kurz schaute ihn so freundlich an, und Herr Lang wollte nicht unhöflich sein und sagen: "Igitt, eine Schlange in meinem Tee!" Also kniff er die Augen zusammen und trank den Tee schnell aus. Schluck!

    Auf dem Heimweg fühlte sich Herr Lang schon ganz komisch im Bauch. "Oh je, oh je", murmelte er. "Ich habe bestimmt die Schlange mitgetrunken!" Zu Hause legte er sich sofort ins Bett. Ihm war schlecht, er hatte Bauchweh und konnte an nichts anderes denken als an die glitschige Schlange in seinem Bauch. Er wurde von Tag zu Tag blasser und dünner.

    Herr Kurz hörte davon, dass sein Freund Herr Lang krank war, und machte sich Sorgen. Er besuchte ihn und fragte: "Lieber Herr Lang, was fehlt dir denn?"
    Mit zitternder Stimme erzählte Herr Lang von der Schlange im Teebecher.

    Herr Kurz runzelte die Stirn. Eine Schlange in seinem Tee? Das konnte er sich nicht vorstellen. Er ging zurück in sein Haus und setzte sich genau auf den Platz, wo Herr Lang gesessen hatte. Er nahm einen Becher, füllte ihn mit Tee und schaute hinein. Nichts.
    Dann blickte er sich im Zimmer um. Ah! An der Wand gegenüber hing ein kunstvoll geschnitzter Bogen, den er zum Bogenschießen benutzte. Die Sonne schien gerade so durchs Fenster, dass der Schatten des Bogens genau in den Teebecher fiel. Und dieser Schatten sah tatsächlich aus wie eine kleine, gekrümmte Schlange!

    Herr Kurz musste schmunzeln. Er eilte zurück zu Herrn Lang. "Komm schnell mit!", rief er. "Ich muss dir etwas zeigen!"
    Obwohl Herr Lang sich schwach fühlte, folgte er seinem Freund. Herr Kurz setzte ihn wieder an den Tisch und gab ihm einen Becher Tee. "Schau hinein!", sagte er.
    Herr Lang blinzelte. Da war sie wieder – die Schlange! Er wollte schon aufschreien.
    Doch dann zeigte Herr Kurz auf den Bogen an der Wand. "Und jetzt schau mal dorthin, und dann wieder in den Becher."
    Herr Lang schaute zum Bogen, dann zum Tee. Der Schatten des Bogens tanzte leicht, als die Blätter vor dem Fenster sich im Wind bewegten. Es war gar keine echte Schlange, nur ein Schatten!

    Plötzlich musste Herr Lang lachen. So sehr hatte er sich gefürchtet, und das alles nur wegen eines Schattens! In dem Moment, als er verstand, dass alles nur Einbildung gewesen war, fühlte er sich sofort viel besser. Sein Bauchweh war wie weggeblasen, und die Farbe kehrte in seine Wangen zurück.

    Und so lernte Herr Lang, dass man nicht immer gleich das Schlimmste denken soll, sondern manchmal erst einmal genau hinschauen muss, bevor man sich fürchtet.

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