Der Mond
Grimms Märchen
Stellt euch vor, es gab einmal ein Land, das war so finster, dass man nachts kaum die eigene Nase sehen konnte. Die Leute dort hatten noch nie etwas von einem Mond gehört.
In diesem Land lebten vier junge Männer, die waren neugierig und ein bisschen abenteuerlustig. Eines Tages sagten sie: "Lasst uns in die Welt hinausziehen und sehen, was es da draußen so gibt!" Gesagt, getan. Sie packten ihre Rucksäcke und wanderten los.
Nach einer langen Reise kamen sie in ein anderes Land. Und was sahen sie da? Am Abend, als es dunkel wurde, hing plötzlich eine helle, leuchtende Kugel an einem hohen Eichenbaum! Sie strahlte ein sanftes Licht aus, das die ganze Gegend erhellte. "Was ist das denn für ein tolles Ding?", fragten die vier staunend die Leute, die vorbeikamen. "Das ist der Mond", antworteten die Leute. "Unser Bürgermeister hat ihn für dreihundert Taler gekauft und an den Baum gehängt. Jeden Tag müssen wir Öl nachfüllen, damit er schön hell leuchtet."
Die vier Freunde tuschelten miteinander. "So einen Mond könnten wir bei uns zu Hause auch gut gebrauchen!", sagte der erste. "Ja, dann wäre es nachts nicht mehr so duster", meinte der zweite. "Wir könnten ihn einfach mitnehmen!", schlug der dritte vor. Der vierte, der immer einen Plan hatte, sagte: "Wir brauchen einen Wagen und Pferde. Dann holen wir ihn uns!"
Sie besorgten sich heimlich einen Wagen und Pferde, kletterten auf den Baum, nahmen die leuchtende Kugel herunter und packten sie vorsichtig auf den Wagen. Dann machten sie sich schnell auf den Heimweg.
Zurück in ihrem finsteren Land, hängten sie den Mond an eine hohe Eiche. Welch ein Wunder! Plötzlich war es nachts hell. Die Leute kamen aus ihren Häusern gelaufen, rieben sich die Augen und freuten sich riesig über das Licht. Die vier jungen Männer aber sagten: "Dieser Mond gehört uns. Wer sein Licht nutzen will, muss uns jede Woche einen Taler bezahlen." Das machten die Leute auch, denn das Licht war ihnen viel wert.
Die Jahre vergingen. Die vier Freunde wurden älter und älter. Als der erste von ihnen spürte, dass er bald sterben würde, sagte er: "Ein Viertel vom Mond gehört mir. Das nehme ich mit ins Grab." Und so geschah es. Als er starb, schnitt man ein Viertel vom Mond ab und legte es zu ihm. Das Licht des Mondes wurde ein bisschen schwächer.
Bald darauf starb der zweite Freund und nahm ebenfalls sein Viertel vom Mond mit. Dann der dritte. Und schließlich auch der vierte. Jedes Mal wurde ein Stück vom Mond abgeschnitten, bis nur noch ein ganz kleines Stückchen übrig war und es wieder fast so dunkel war wie früher.
Unten in der Unterwelt aber, wo es sonst immer stockfinster war, wurde es plötzlich hell. Die vier Mondviertel, die die Freunde mitgenommen hatten, leuchteten dort zusammen und machten die Dunkelheit erträglich. Die Toten, die sonst nur traurig herumsaßen, wachten auf, rieben sich die Augen und freuten sich. Sie fingen an zu spielen und zu tanzen, und es wurde ganz schön laut da unten.
Dieser Lärm drang bis hinauf in den Himmel zum heiligen Petrus, der die Himmelstür bewachte. "Huch, was ist denn da unten los?", wunderte er sich. Er stieg hinab in die Unterwelt, um nachzusehen. Dort sah er die vier leuchtenden Mondstücke und die feiernden Toten.
Petrus dachte sich: "Das geht so nicht weiter, die machen ja einen Heidenlärm!" Er sammelte die vier Mondstücke ein, fügte sie wieder zu einem ganzen, runden Mond zusammen und nahm ihn mit hinauf in den Himmel. Dort hängte er ihn ganz hoch oben auf, wo er für alle Menschen auf der Welt scheinen konnte.
Und seit diesem Tag hängt der Mond am Himmel, leuchtet für uns alle und sorgt dafür, dass die Nächte nicht mehr ganz so finster sind. Und niemand muss mehr dafür bezahlen.
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