• Die Gänsemagd

    Grimms Märchen
    In einem prächtigen Schloss, wo die Sonne immer zu scheinen schien, lebte eine junge Prinzessin. Es war Zeit für sie, zu heiraten, und ihr Bräutigam, ein Prinz, wohnte in einem Königreich weit, weit weg.

    Ihre Mutter, die Königin, packte ihr viele goldene Becher und silberne Teller ein. Sie gab ihr auch eine liebe Kammerzofe als Begleitung und ein ganz besonderes Pferd. Dieses Pferd hieß Falada und konnte sprechen! Zum Abschied schenkte die Königin ihrer Tochter noch ein kleines, weißes Tüchlein. Darauf waren drei Tropfen von ihrem eigenen königlichen Blut. "Pass gut darauf auf, mein Kind", sagte die Königin, "es wird dir helfen."

    Die Prinzessin und ihre Kammerzofe ritten los. Nach einer Weile bekam die Prinzessin großen Durst. "Liebe Zofe", bat sie, "hol mir doch bitte Wasser aus dem Bach mit meinem goldenen Becher." Aber die Zofe war gar nicht lieb. Sie sagte frech: "Wenn Ihr Durst habt, dann holt Euch Euer Wasser doch selbst! Ich will nicht Eure Dienerin sein." Die Prinzessin war so durstig, dass sie sich zum Bach bückte. Dabei fiel ihr das Tüchlein mit den Blutstropfen ins Wasser und schwamm davon. Oh je!

    Die böse Zofe sah das und freute sich. Nun hatte sie Macht über die Prinzessin! Sie befahl: "Gib mir dein königliches Kleid und dein Pferd Falada! Du reitest auf meinem alten Gaul. Und du musst mir schwören, bei Hofe niemandem zu erzählen, wer du wirklich bist, sonst lasse ich dich auf der Stelle umbringen!" Die Prinzessin weinte, aber sie hatte Angst und tat, was die Zofe verlangte.

    Als sie im Schloss des Prinzen ankamen, gab sich die böse Zofe als die Prinzessin aus. Der alte König, der Vater des Prinzen, wunderte sich ein wenig, aber er glaubte ihr. Die echte Prinzessin aber, in ihren einfachen Kleidern, wurde gefragt: "Was kannst du denn tun?" "Ach", sagte sie traurig, "ich kann Gänse hüten." So wurde die echte Prinzessin zur Gänsemagd.

    Die falsche Braut hatte Angst, Falada könnte plaudern. Also sagte sie zum alten König: "Lieber Schwiegervater, das Pferd, auf dem ich hergeritten kam, war unartig. Lasst es bitte töten." Die echte Prinzessin hörte davon und ihr Herz wurde ganz schwer. Sie bat den Schlachter heimlich: "Wenn du Falada schon töten musst, dann nagle seinen Kopf bitte über das große, dunkle Tor, durch das ich jeden Morgen mit meinen Gänsen gehen muss." Der Schlachter tat ihr den Gefallen.

    Jeden Morgen, wenn die Gänsemagd mit ihren Gänsen unter dem Tor hindurchging, sagte sie traurig:
    "O du Falada, da du hangest."
    Und der Kopf antwortete:
    "O du Jungfer Königin, da du gangest,
    wenn das deine Mutter wüsste,
    ihr Herz tät ihr zerspringen."

    Die Gänsemagd hatte wunderschönes, goldenes Haar. Ein kleiner Gänsejunge namens Kürdchen, der mit ihr die Gänse hütete, wollte ihr immer ein paar Haare ausreißen. Aber die Prinzessin konnte einen kleinen Zauberspruch:
    "Weh, weh, Windchen,
    nimm Kürdchens Hütchen,
    und lass ihn jagen,
    bis ich mein Haar gekämmt und geflochten hab."
    Kaum hatte sie das gesagt, kam ein starker Wind, schnappte Kürdchens Hut und wirbelte ihn über die Wiesen. Kürdchen musste hinterherrennen, und die Prinzessin konnte in Ruhe ihr Haar kämmen.

    Kürdchen ärgerte sich und beschwerte sich beim alten König: "Diese Gänsemagd ist komisch! Sie redet mit einem Pferdekopf und kann meinen Hut wegzaubern!"
    Der alte König wurde neugierig. Am nächsten Tag versteckte er sich und beobachtete alles. Er hörte, wie die Gänsemagd mit Faladas Kopf sprach und sah, wie Kürdchens Hut davonflog.

    Am Abend rief der König die Gänsemagd zu sich. "Erzähl mir, was mit dir los ist", bat er. Aber die Prinzessin sagte: "Das darf ich nicht, ich habe einen Eid geschworen." Da sagte der kluge König: "Wenn du es mir nicht sagen darfst, dann klage dein Leid diesem eisernen Ofen dort drüben." Die Prinzessin kroch in den Ofen und erzählte ihm ihre ganze traurige Geschichte, von der bösen Zofe, dem verlorenen Tuch und dem toten Falada. Der König stand draußen und hörte alles mit.

    Sofort ließ der König die Prinzessin in prächtige Kleider kleiden. Sie war so schön! Bei einem großen Festessen saß sie neben dem jungen Prinzen. Die falsche Braut erkannte sie nicht in ihrer Schönheit.
    Da fragte der alte König die falsche Braut vor allen Gästen: "Was ist eine wert, die ihren Herrn so betrügt?" Die böse Zofe antwortete ahnungslos: "Die ist nichts Besseres wert, als dass sie nackt ausgezogen und in ein Fass gesteckt wird, das inwendig mit spitzen Nägeln beschlagen ist. Und zwei weiße Pferde sollen das Fass die Straße auf und ab schleifen, bis sie tot ist."
    "Das bist du!", rief der König. "Und du hast dein eigenes Urteil gesprochen!"
    Und so wurde es mit der bösen Zofe gemacht.

    Die echte Prinzessin aber heiratete den jungen Prinzen. Sie feierten eine fröhliche Hochzeit und lebten glücklich und zufrieden für viele, viele Jahre. Und Faladas Kopf wurde ehrenvoll abgenommen und bekam einen schönen Platz im Schlossgarten.

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